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Das wilde Leben

Das wilde Leben

Titel: Das wilde Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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nichts, daß Rechtsanwalt Czernisewsky das schönste, ergreifendste Plädoyer seines Lebens hielt. Die Stadt hatte endgültig genug von den Skandalen des Herrn Stern. An einem Dezembertag, es schneite, als wären alle Träume zu Flocken zerpflückt, wurde Herr Stern ins Irrenhaus gebracht. Gerade ein Jahr war seit jenem ominösen Vortrag vergangen. Herrn Stern waren etwa hundert, hundertfünfzig Wörter verblieben. Er konnte seinen Namen nicht sagen, wiederholte aber in einem fort Rechenschieber, Rechenschieber. Er sagte Striezel, aber er sagte nicht Strudel. Manchmal flüsterte er: Emmanuel Negris.
Nichtsdestoweniger zählte Herr Stern im Irrenhaus zu den stillen, zuverlässigen Verrückten. Gewöhnlich verbrachte er seine Tage damit, an dem großen, zum Park hinausgehenden Flügelfenster zu sitzen und einzelne Wörter zu wiederholen, in unterschiedlichen Sprachmelodien und Stimmlagen. Einer seiner Ärzte, Herr Oberarzt Gierke, machte sich Notizen über das Phänomen. Das Wort »Bergehalde« zum Beispiel sagte Herr Stern an einem flüchtigen Nachmittag zweihundertdreiundsechzigmal hintereinander und kein einziges Mal auf die gleiche Art. Oberarzt Gierke unterzog den verbliebenen Wortschatz von Herrn Stern einer gründlichen Untersuchung, deren Ergebnisse er später in einer Studie zusammenfaßte. Manchmal kam ein Pfleger zu Herrn Stern, lockerte den Druck seiner Fesseln ein wenig, nötigte ihm Wasser oder ein Stück Brot in den Mund und überließ ihn wieder sich selbst. Meist war Herr Stern allein, Besucher hatte er kaum, natürlich mit Ausnahme von Herrn Czernisewsky, der sich mindestens einmal in der Woche bei seinem Freund einfand. Bedauerlicherweise verursachte Herr Stern ausgerechnet am Heiligen Abend einen größeren Skandal, als ihn das Wort für das männliche Geschlechtsorgan endgültig verließ. Herr Stern riß sich tobend die Beruhigungsfesseln herunter und lief, sein offenbar im Erregungszustand befindliches Glied in der Hand, stammelnd und röchelnd, Speichel und Geifer spuckend durch die Gänge der Anstalt. Er bekam so viele Injektionen, daß er in jenem Jahr nicht mehr zu sich kam. Erst in den ersten Januartagen öffnete er wieder die Augen.
    Sein Freund, Rechtsanwalt Czernisewsky, saß neben ihm.
    Hinter ihm stand Oberarzt Gierke, Feder und Mappe in der Hand.
    Herr Stern, sagte Rechtsanwalt Czernisewsky leise.
    Herr Stern antwortete nicht. Seine Augen glänzten wie eine Fensterscheibe, durch die lange, sehr lange niemand mehr geblickt hatte.
    Bergehalde, sagte Oberarzt Gierke.
    Herr Stern schwieg.
    Rechenschieber, sagte der Arzt.
    Doch Herr Stern blieb still.
    Emmanuel Negris, flüsterte Rechtsanwalt Czernisewsky zu allem entschlossen.
    Herr Stern zuckte nicht einmal mit der Wimper.
    Aus, vorbei, seufzte Rechtsanwalt Czernisewsky.
    Herr Stern wurde in die vom Geruch des Todes durchzogene Abteilung für unheilbar Kranke überführt. In stiller Resignation lagen hier Verrückte und Einfältige, hilflose Idioten im Sterben. Eine schwere Stille lag über dem nach Chlor riechenden Saal, nur der Tod nestelte in den Ecken und blies hinter die Vorhänge, die sich vor den zugemauerten Fenstern sachte bewegten. Eine einzige Glühbirne hing von der Decke und verbreitete ihr schwaches gelbes Licht. Mitunter verirrte sich eine Fliege in den Saal, ihr Summen wirkte wie ein Dröhnen. Hin und wieder starb ein Verrückter, ein, zwei Tage später entdeckte man den Toten und brachte ihn weg. Herr Stern lag stumm und bewegungslos auf seinem Bett. Er hatte die Augen offen und ließ keinen einzigen Wehlaut hören. Oberarzt Gierke war überzeugt, daß ihm nicht mehr viel Zeit blieb. Das Gehirn von Herrn Stern erwarb ein Medizinprofessor aus der Hauptstadt, auch er einer seiner großen Bewunderer, vergangenes Jahr hatte er ihn bei mehreren Vorträgen, so auch beim letzten, mit seiner Anwesenheit beehrt. Schließlich war alles bereit, daß
Herr Stern verscheiden und sein beunruhigendes Geheimnis mit ins Grab nehmen konnte. Doch eines Tages war er verschwunden. Man fand sein Bett leer. Seine Kleidung lag auf dem Boden. Es ließ sich auch nicht ermitteln, auf welche Weise er das sorgfältig bewachte Gebäude des Irrenhauses verlassen hatte. Gendarmeriehauptmann Brünn mobilisierte alle seine Männer, um den offenbar Unbekleideten aufzugreifen. Er blieb unauffindbar. Man stieß auf keinerlei ernstzunehmende Spuren. Einige Wochen hielt eine seltsame Aufregung die Stadt in Atem. Die Leute erwarteten, daß Herr Stern ganz

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