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Das wilde Kind

Das wilde Kind

Titel: Das wilde Kind
Autoren: T.C. Boyle
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eine Ratte durch den Fluss geschwommen, sie hätten ihn im Sommer in der Sonne liegen und im Winter zwischen den Schneeresten über die Hügel rennen sehen, unempfindlich gegen die Kälte. Sie nannten ihn den Nackten. L’animal . Oder einfach den Wilden.
    Was ihn betraf: er scharrte, er grub, er folgte seiner Nase. In seiner primitiven Existenz musste er nur das Bedürfnis nach Nahrung befriedigen, und wenn er, wie die anderen Geschöpfe des Waldes, auf die Felder schlich, ging erdasselbe Risiko ein wie sie: in eine Falle zu geraten, erschossen zu werden, vor Schreck zu erstarren, wenn die Lumpen einer Vogelscheuche plötzlich flatterten. Dennoch war seine Ernährung, wie man sich vorstellen kann, kaum ausreichend und bestand hauptsächlich aus Pflanzen, und im Winter litt er Hunger wie die Vögel. Aber er überlebte. Und er wuchs. Er suchte Höfe, Misthaufen und Kornspeicher ab, er wurde kühner, schneller und stärker, und die Bauern hetzten ihre Hunde auf ihn, aber er war gerissener als jeder Hund und zu schlau, um auf einen Baum zu klettern. Kam er irgendwann zu der Erkenntnis, dass er zum Stamm der Menschen gehörte, so wie ein Bär instinktiv weiß, dass er zu anderen Bären und nicht zu Füchsen, Wölfen oder Ziegen gehört? Wusste er, dass er ein Mensch war? Er muss es gewusst haben. Er hatte keine Worte, um diese Behauptung zu formulieren, er konnte nicht über die Gegenwart hinausdenken, aber er wuchs und wurde immer weniger ein Waldwesen und immer mehr ein Wesen der Weiden und Gärten, jenes schmalen Streifens, der Wald und maquis vom bewohnten, besiedelten Land trennte.
    Dann kam der Winter 1799, und der war besonders hart. Inzwischen hütete er sich, zu sehr in die Nähe des Waldes von La Bassine zu kommen, und zog, auf der Suche nach Pilzen, Trauben, Beeren und den Maden aus dem morschen Holz umgestürzter Bäume, über die Hügel, durchquerte die Ebene zwischen Lacaune und Roquecézière und folgte dann der Lavergne, bis er in der Umgebung des Dorfes Saint-Sernin ankam. Es war Anfang Januar, kurz nach Neujahr, und die Kälte hielt alles im Griff. Als es dunkel wurde, machte er sich ein Nest aus Fichtenzweigen, schlief aber unruhig, weil er so stark zitterte und derHunger an seinen Eingeweiden nagte. Beim ersten Tageslicht stand er auf und suchte zwischen den Schollen eines Ackers nach irgend etwas Essbarem, nach Zwiebeln oder Knollen oder irgendwelchen Überresten längst eingebrachter Ernten, als er plötzlich eine geisterhafte, schemenhafte Bewegung gewahrte: Rauch, der hinter den Bäumen am anderen Ende des Ackers aufstieg. Der Junge hockte auf allen vieren und grub. Die Erde war nass. Eine Krähe saß auf einem Baum und verspottete ihn. Ohne nachzudenken, ohne zu wissen, was er tat und warum er es tat, erhob er sich und trottete in Richtung des Rauchs und der Hütte, aus deren Schornstein er kam.
    Drinnen war François Vidal, der Färber des Dorfes. Er war soeben aufgestanden und hatte ein Feuer entfacht, um die Hütte zu wärmen und sich eine Schüssel Haferbrei zu kochen. Er war kinderlos, ein Witwer, er lebte allein. Von den Dachbalken der Hütte, die nur aus einem einzigen Raum bestand, hingen die Kräuter, Blumen und Blätter, die er in seinen Rezepturen verwendete. Er war der einzige weit und breit, der mittels einer eigenen Farb- und Beizmischung Lammwolle in königlichem Purpur zu färben verstand, und natürlich hielt er die Zusammensetzung dieser Mischung streng geheim. Hatten es seine Konkurrenten auf das Rezept abgesehen? O ja, allerdings. Bespitzelten sie ihn? Er wusste es nicht genau, doch er traute es ihnen zu. Jedenfalls ging er hinaus zu dem roh gezimmerten Stall, in dem seine Kuh stand; er wollte sie füttern und melken und dann den Rahm abschöpfen und in seinen Haferbrei rühren. In diesem Augenblick sah er etwas – den dunklen Umriss eines Tieres, das vor dem Hintergrund der braunen Erde und der in Streifen aufragenden Bäume auf ihn zukam.
    Er hatte keine Vorurteile. Die Gerüchte aus Lacaune hatte er nicht gehört, nicht einmal die aus dem Nachbardorf. Und als er genau hinsah und das Gesehene im Kopf verarbeitete, erkannte er, dass es sich nicht um ein Tier, sondern um ein menschliches Kind handelte, einen Jungen, schmutzig, nackt den Elementen ausgesetzt, in Not. Er streckte die Hand aus.
    Was dann kam, war ein hartnäckiges Ringen. Als der Junge nicht reagierte, streckte Vidal beide Hände aus, die Handflächen nach oben gekehrt, um zu zeigen, dass er unbewaffnet war, und
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