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Das wilde Kind

Das wilde Kind

Titel: Das wilde Kind
Autoren: T.C. Boyle
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könne. Man hatte den Knebel entfernt, damit der Junge essen und trinken konnte, und einige, hauptsächlich Frauen, hatten versucht, ihn dazu zu bewegen, etwas zu kosten – einen Bissen Brot, ein Stückchen gekochtes Hasenfleisch, Wein, Brühe –, doch er wandte den Kopf ab, spuckte aus und weigerte sich. Jemand meinte, er sei vielleicht von Wölfen aufgezogen worden wie Romulus und Remus und werde nur die Milch einer Wölfin trinken, und so setzte man ihm das Ähnlichste vor, was das Dorf zu bieten hatte – etwas Milch von einer Hündin, die gerade geworfen hatte –, aber auch dies wollte er nicht. Ebensowenig Küchenabfälle, Eier, Butter, Blutwurst und Käse. Nach einer Weile, nachdem die Hälfte der Anwesenden geduldig über dem gefesselten, sich windenden Wesen gestanden und ihm vorsichtig, aber erfolglos dies und das angeboten hatten, gaben sie es auf und gingen nach Hause und zu Bett, aufgeregt und zufrieden, aber auch müde, sehr müde, und den Kopf umnebelt vom Wein.
    Dann war es still. Dann war es dunkel. Starr und benommen lag der Junge zwischen Wachen und Schlafen. Er zitterte, nicht vor Kälte, denn er war abgehärtet und hatte selbst die kältesten Wintertage überstanden, sondern vor Angst. Er spürte seine Hände und Füße nicht mehr, denn die Fesseln waren so eng, dass sie wie Druckverbände waren und das Blut abschnürten, und die Fremdheit dieses Ortes, wo man ihn eingesperrt hatte, jagte ihm furchtbare Angst ein. Es war ein an allen Seiten geschlossenes Gehäuse – kein Stern war zu sehen, kein Geruch von Fichtenoder Wacholder oder fließendem Wasser wahrzunehmen. Tiere, größer und stärker als er, hatten ihn eingefangen, zu ihrem Vergnügen oder um ihn zu fressen, und so erfüllte ihn nur Angst, denn er hatte kein Wort für Tod und keine Möglichkeit, ihn begrifflich zu erfassen. Er fing Dinge, schnelle, furchtsame Dinge, er tötete sie und fraß sie auf, doch das war an einem anderen Ort, zu einer anderen Zeit geschehen. Vielleicht stellte er eine Verbindung her, vielleicht auch nicht. Aber irgendwann, als der Mond aufging und ein dünner Lichtstrahl durch eine Fuge zwischen zwei Steinen in der Wand fiel, begann er sich zu regen.
    Er hatte kein Zeitgefühl. Er spannte sich an, er wippte, er stieß sich mit seinen beweglichen Zehen ab und kratzte mit den Fingernägeln, er bewegte sich hierhin und dorthin, bis die Fesseln langsam nachgaben. Als sie sich gelockert hatten, streifte er sie ab, als wären es irgendwelche Pflanzen, nichts weiter als Ranken, Triebe oder kleine Zweige, die nach seinen Handgelenken und Knöcheln griffen, wenn er durch den Wald streifte, und wenige Augenblicke später erkundete er den Raum. Es gab zwei Türen, doch er wusste nicht, was eine Tür war, und als man ihn hierhergebracht und auf den mit Stroh bestreuten Boden aus gestampftem Lehm gelegt hatte, war er so starr vor Angst gewesen, dass er nicht auf ihre Funktion geachtet hatte. Dennoch betastete er sie, spürte, dass das glatte Holz eine eigene Beschaffenheit hatte, anders als die Steine, und warf sich mit seinem Gewicht dagegen. Nichts. Die Türen – die eine führte in die Taverne, die andere zum Hof – waren verschlossen, und selbst wenn sie es nicht gewesen wären, hätte er das Geheimnis und die Funktionsweise der Angeln nicht ergründen können. Doch über ihm war das Dach, eine Konstruktion aus entrindeten, so dicht wieFinger oder Zehen aneinandergelegten Stangen mit einer Strohschicht darüber. Ein einziger Sprung brachte ihn hinauf, und dort hing er kopfunter wie ein riesiges Insekt, und es war eine Kleinigkeit, eine Hand zwischen zwei Stangen zu schieben und sich nach oben zu graben, hinauf in den Geruch der Nacht.

3

    Über zwei Jahre lang entwischte er den Jägern. Er strich wie ein Alpdruck durch die Gedanken der Menschen, und wenn der Mistral in die Strohdächer fuhr und in den Kaminen kreischte, sagte man, er habe die Geister des Waldes aufgeschreckt. Wenn ein Huhn fehlte, gab man dem enfant die Schuld, obwohl niemand ihn je Fleisch hatte essen sehen – ja es hatte so geschienen, als wisse er gar nicht, was das war. Wenn es zuviel oder zuwenig regnete, wenn Rost das Getreide befiel und Blattläuse die Weinstöcke ruinierten, bekreuzigte man sich und verfluchte ihn. Er war kein Kind. Er war ein Geist, ein Dämon, verstoßen wie die Engel, die sich gegen Gott erhoben hatten – stumm, starren Blicks und wahnsinnig. Bauern berichteten, er sei über mondbeschienene Wiesen gesprungen und wie
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