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Das wilde Kind

Das wilde Kind

Titel: Das wilde Kind
Autoren: T.C. Boyle
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eingesperrte wilde Wesen zu übergeben. Der Kommissar, der oft im Distrikt unterwegs war, hatte in Lacaune und anderswo Gerüchte gehört und war begierig, dieses Phänomen mit eigenen Augen zu sehen. Hier, dachte er, bot sich die Gelegenheit – sofern es sich nicht um eine Monstrosität oder einen aus irgendeiner privaten Menagerie ausgebrochenen afrikanischen Affen handelte –, Rousseaus Hypothese vom edlen Wilden auf die Probe zu stellen. Welche eingeborenen Ideen hatte er? Was wusste er von Gott und der Schöpfung? Welcher Sprache bediente er sich – der Ursprache, die alle Menschen vom Himmel erhalten hatten und aus der alle anderen Sprachen hervorgegangen waren? Oder der unverständlichen Laute von Vögeln und Tieren? Er konnte es kaum erwarten. Das Licht war bereits im Schwinden begriffen, und er hatte noch nicht gegessen, aber was war schon ein Abendessen im Vergleich zu der Möglichkeit, die sich hier eröffnete? Er nahm Vidal beim Arm. »Führt mich zu ihm«, sagte er.
    Als er mit Vidal durch den Regen eilte, um diese Absonderlichkeitin Augenschein zu nehmen, stellte er zu seiner Überraschung fest, dass die Straßen voller Menschen waren, die in dieselbe Richtung gingen wie er. »Ist das wahr, Bürger Kommissar?« fragten ihn die Leute. »Das wilde Kind ist gefangen?«
    »Ich habe gehört«, sagte ein anderer – und jetzt war es schon eine regelrechte Meute aus Männern, Frauen und Kindern, die allesamt durch den Regen zu Vidals Hütte stapften –, »dass er an jeder Hand sechs Finger hat.«
    »Und an jedem Fuß sechs Zehen«, rief einer. »Und Krallen wie eine Katze, damit kann er Wände raufklettern.«
    »Er kann fünfzig Meter weit springen.«
    »Und er lebt von Blut, das er um Mitternacht den Schafen aussaugt.«
    »Das ist doch Unsinn!« Catherine Thibodeaux, eine der Frauen aus dem Dorf, ging neben dem Kommissar her, eine Kapuze über den Kopf gezogen. »Er ist bloß ein ausgesetztes Kind. Wo ist der Curé? Man muss den Curé rufen.«
    Als sie sich dem Hof des Färbers näherten, drehte der Kommissar sich abrupt um und wollte sie zum Schweigen bringen – »Seid still«, zischte er, »ihr werdet ihn nur erschrecken« –, aber die Menge hatte sich in eine Erregung aus Angst und Sensationslust hineingesteigert und drängte vorwärts wie eine Schafherde auf dem Weg zur Weide. Die Leute standen in einer Traube vor der Tür, sie drückten die Gesichter an die Fenster, und wenn der schwere Färbekessel nicht gewesen wäre, so wären sie ohne weiteres hineingestürmt. Jetzt hielten sie inne und senkten die Stimme zu einem Flüstern, denn Vidal und der Kommissar schoben den Kessel beiseite, traten ein und schlossen hinter sich die Tür. Da war der Junge: Er hockte am Feuer, und alles wargenauso wie zuvor, als Vidal ihn verlassen hatte. Allerdings schien er im Augenblick nichts zu essen. Glücklicherweise. Was jedoch seltsam war: Er sah nicht auf, obwohl er die Anwesenheit zweier Menschen in diesem Raum und auch die ungläubigen Gesichter an den Fenstern bemerkt haben musste.
    Der Kommissar war sprachlos. Dieses Kind – dieses Ding –, das da kauerte, war narbenübersät, schmutzig und verströmte einen Tiergestank, er war so wild und einsam wie das erste aufrechtgehende Geschöpf, das Gott nach seinem Bilde erschaffen hatte, wie Adam, der zum Herrn über die Tiere gemacht worden war und ihnen ihre Namen gegeben hatte. Aber dies war ein Tier, eine Art Affe, eines jener Wesen, die Linné vorgeschwebt haben mussten, als er Mensch und Affen in dieselbe Ordnung gestellt hatte. Und um alle Zweifel zu beseitigen, war auf den roh gezimmerten Dielen ein frisches, glänzendes Häufchen Kot.
    Das Feuer knackte und zischte. Man hörte das Murmeln der Menge, die sich vor den Fenstern drängte. »Lieber Himmel«, stieß der Kommissar leise hervor, wandte sich dann an den Färber und stellte die einzige Frage, die ihm einfiel. »Ist es gefährlich?«
    Vidal, der sich für das Tohuwabohu in seiner Hütte vor dem Kommissar schämte, zuckte nur die Schultern. »Er ist bloß ein Kind, Bürger Kommissar, ein armes, ausgesetztes Kind aus Fleisch und Blut wie jeder andere. Aber niemand hat ihm etwas beigebracht. Er kennt keinen Haferbrei, keine Schüssel, keinen Becher, keinen Löffel, er weiß nicht, was er damit anfangen soll.«
    Constans-Saint-Estève war Anfang Vierzig und nach vorrevolutionärer Pariser Mode gekleidet. Er hatte ein feistes Gesicht und die gespitzten Lippen eines Genussmenschen.Den Rücken noch immer
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