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Das wilde Kind

Das wilde Kind

Titel: Das wilde Kind
Autoren: T.C. Boyle
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Was für einen Sinn hätte Nähe auch gehabt? Was hätten sie einander schon sagen können? Victor teilte sich mit den Augen und bestimmten grobschlächtigen Gebärden mit, doch an diesem Vokabular war Itard nicht mehr interessiert. Er war ein vielbeschäftigter Mann, nach dem man überall verlangte, sein Ruhm nahm zu, und im Lauf der Zeit wurden seine Besuche seltener und hörten schließlich ganz auf.
    Zugleich alterten die Guérins, die sich nun praktisch im Ruhestand befanden, auf eine Weise, dass es schien, als türmten sich die Wochen wie Monate und die Monate wie Jahre über ihnen. Monsieur Guérin, der zehn Jahre älter als seine Frau war, wurde krank. Victor stand in der Tür des Krankenzimmers und sah ihn mit ausdruckslosen, verständnislosen Augen an – so kam es Madame Guérin jedenfalls vor. Je mehr ihr Mann sie brauchte, desto mehr schien Victor sich zurückzuentwickeln. Er forderte ihre Aufmerksamkeit. Er zupfte an ihrem Kleid. Er verlangte, dass sie ihm auf der Stelle Bratkartoffeln machte, ihm ein Glas Milch gab, ihm die Beine massierte oder einfach etwas betrachtete und bewunderte, das er entdeckt hatte: eine Spinne, die im Winkel zwischen Zimmerdecke und Kamin ihr Netz wob, oder einen Vogel auf dem Fensterbrett, der schon wieder weggeflogen war, bevor sie auch nur den Kopf gewandt hatte. Und dann war auch Monsieur Guérin fort, und Victor stand verwirrt am Sarg undwich vor den vielen fremden Gesichtern zurück, die sich daran einfanden.
    Am Tag nach der Beerdigung stand Madame Guérin erst am späten Nachmittag auf, und Victor verbrachte den Tag damit, aus dem Fenster zu sehen, am gegenüberliegenden Haus vorbei auf das unbebaute Grundstück daneben. Er trank ein Glas Wasser nach dem anderen, die Urflüssigkeit, die ihn zurückversetzte in die Zeit der Freiheit und Entbehrung, und starrte dorthin, wo das Gras hoch war und die Zweige der Bäume sich im Wind wiegten. Als das Licht langsam schwand, ging er zum Schrank und deckte den Tisch, wie man es ihn gelehrt hatte: drei Schüsseln, drei Becher, drei Löffel und drei zweimal gefaltete Servietten. Mit gesenktem Kopf ging er in Madame Guérins Zimmer, stand am Bett und betrachtete die müden Gesichtszüge, die aschfahle Haut, die Kummerfalten, die an ihrem Kinn und den Augenwinkeln zogen. Er war hungrig. Er hatte den ganzen Tag nichts zu essen bekommen. Das Feuer war tot, und es war kalt im Haus. Er zeigte mit der Rechten auf seinen Mund, und als Madame Guérin sich regte, nahm er ihren Arm, führte sie in die Küche und zeigte auf den Herd.
    Als sie durch die Tür trat, wusste er, dass etwas falsch war. Sie fuhr zurück, er spürte das Zittern ihres Arms, und da war der Tisch, für drei Personen gedeckt. »Nein«, sagte sie. Ihre Stimme klang gepresst und kam von tief in ihrer Kehle. »Nein.« Das war ein Wort, das er verstand. Ihre Schultern zuckten, und sie begann zu weinen, ein leises, feuchtes Schluchzen der Trauer und Verzweiflung, und für einen Moment wusste er nicht, was er tun sollte. Dann aber ging er, so langsam und vorsichtig, wie er sich damals, in einem anderen Leben, an Dinge im Gras angeschlichenhatte, zum Tisch, nahm Schüssel, Becher, Löffel und Serviette und tat sie wieder in den Schrank.
    In den folgenden Jahren verließ Victor nur selten das Haus oder den von den Mauern der Nachbargebäude begrenzten Hof. Madame Guérin war schließlich zu gebrechlich, um im Park mit ihm spazierenzugehen, und so stand er statt dessen stundenlang am Fenster oder lag im Hof und sah den Bewegungen der Wolken zu. Er aß ohne Genuss und dennoch so, als litte er noch immer Hunger, als streifte er noch immer mit leerem, geschrumpftem Magen durch den Wald von La Bassine. An der Taille und den Hüften wurde er dicker. Sein Gesicht wurde so fleischig, dass man ihn nicht wiedererkannt hätte. Niemand wusste es. Niemanden kümmerte es. Einst war er die Sensation von Paris gewesen, doch nun war er vergessen; auch sein Name – Victor – war vergessen. Madame Guérin rief ihn nicht mehr bei seinem Namen, sie sprach überhaupt nur noch mit ihren Töchtern, die ihr eigenes Leben und ihre eigenen Leidenschaften hatten und kaum noch zu Besuch kamen. Und wenn die Bürger von Paris sich im Vorbeigehen an ihn erinnerten wie an eine aufregende Nachricht aus längst vergangener Zeit oder an eine Geschichte, die man sich spätnachts am Feuer erzählt, so nannten sie ihn nur den »Wilden«.
    Eines Morgens war Sultan verschwunden, als hätte es ihn nie gegeben, und
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