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Das wilde Kind

Das wilde Kind

Titel: Das wilde Kind
Autoren: T.C. Boyle
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einemmal sah er Victors Gesicht vor sich,sah dieses blasse, verwundbare Gesicht in der Ecke seines Zimmers, wo er sich hockend vor und zurück wiegte und an seinem Glied zerrte, sah den Schimmer der Augen, die die ganze Welt wieder in jenes Urloch zogen, aus dem vor Äonen der erste Mensch gekrochen war. »Er ist nicht so«, sagte er lahm.
    »Er ist unheilbar. Nicht erziehbar. Er muss weg.«
    Itard war eine mögliche Lösung eingefallen, doch das war etwas, das er mit niemandem und schon gar nicht mit dem Abbé oder Madame Guérin erörtern konnte. Wenn Victor sich fleischlich ausdrücken und die Erleichterung erfahren könnte, die jeder gesunde Mann von Zeit zu Zeit erleben musste, wollte er nicht den Verstand verlieren, dann bestand vielleicht noch Hoffnung, denn diese Regression, diese Unfähigkeit, sich zu konzentrieren, das Gelernte aufzunehmen und wie ein Mensch zu sprechen, war vielleicht irgendwie mit seinen natürlichen Bedürfnissen verbunden. Itard spielte mit dem Gedanken, eine Prostituierte zu bezahlen. Monatelang rang er mit diesem Gedanken, erkannte schließlich jedoch, dass er es nicht tun konnte: Er konnte ein Kind vor der Wildnis retten, er konnte es als seltenes Exemplar untersuchen, seine Sinne und seinen Geist anregen und üben, aber er konnte nicht Gott spielen. Dazu hatte kein Mensch das Recht.
    »Wir können ihn nicht wegschicken«, beharrte er. »Er ist ein Mündel des Staates. Wir tragen für ihn die Verantwortung. Wir haben ihn aus dem Wald geholt und ihn zivilisiert, und wir können jetzt nicht die Schultern zucken und ihn wieder zurückschicken –«
    »Zivilisiert?« Sicard stand breitbeinig da, als erwartete er eine handfeste Auseinandersetzung über dieses Thema. Er wollte sich nicht setzen, er wollte kein GlasWasser. Er wollte nur eines. »Die Sache liegt nicht mehr in Ihren Händen.«
    »Und der Innenminister? Mein Bericht an ihn?«
    »In Ihrem Bericht wird stehen, dass Sie erfolglos waren.« Sicards Züge wurden etwas weicher. »Allerdings nicht, weil es Ihnen an Eifer gefehlt hätte. Ich weiß Ihre Bemühungen sehr wohl zu schätzen, wir alle wissen sie zu schätzen, aber ich habe es Ihnen schon vor Jahren gesagt und wiederhole es jetzt: Geben Sie es auf. Er ist ein Idiot. Er ist schmutzig. Ein Tier. Er muss eingesperrt werden.« Er griff nach dem Glas, hielt es hoch, als wollte er die Reinheit des Wassers prüfen, und stellte es wieder ab. »Und noch etwas: Er sollte kastriert werden.«
    »Kastriert?«
    »Wie ein Hund. Oder ein Stier.«
    »Sollen wir ihm vielleicht auch noch einen Ring durch die Nase ziehen?«
    Der Abbé schwieg lange. Eine Brise kam auf und ließ die Vorhänge schwingen. Ein Sonnenstrahl, gelb wie Butter, fiel auf den Boden vor seinen Füßen. Schließlich – er musste die Stimme erheben, um das Geschrei der spielenden Kinder zu übertönen – räusperte er sich und sagte: »Ich sehe keinen Grund, warum nicht. Ja, warum eigentlich nicht?«

8

    Der Bericht, der Abschlussbericht, den Itard für den Innenminister anfertigte, war eine Qual, eine Art Kreuzigung der Seele, die ihm jedesmal, wenn er die Feder auf das Papier setzte, beinahe die Tränen in die Augen trieb. Es war ein Eingeständnis, dass er fünf Jahre seines Lebens – und des Lebens von Victor – vergeudet hatte, um etwas Unmögliches zu erreichen, und dass er, trotz aller Zuversicht und Bedenkenlosigkeit, trotz seiner wiederholten Versicherungen, seine Arbeit werde von Erfolg gekrönt sein, gescheitert war. Er hatte letztlich einsehen müssen, dass die Defizite, welche die Aussetzung bei Victor bewirkt hatte, nie wiedergutzumachen waren – dass er, wie Sicard beharrlich behauptete, nicht erziehbar war. Im Interesse der Wissenschaft und zu einem kleinen Teil auch, um seine eigenen Bemühungen zu rechtfertigen, hielt Itard diese Defizite in seinem Bericht fest: »1) Da er die Worte anderer Menschen nicht wahrnehmen und somit nicht selbst sprechen lernen kann, ist Victors Erziehung unvollständig und wird es weiterhin bleiben; 2) seine ›intellektuellen‹ Fortschritte werden stets hinter denen anderer, normal aufwachsender Kinder zurückbleiben; 3) seine emotionale Entwicklung ist blockiert durch einen ausgeprägten Egoismus und das Unvermögen, seine erwachendenamourösen Empfindungen auf die Erreichung befriedigender Ziele zu richten.«
    Die Feder kroch über das Papier, als wäre sie aus Blei; jeder Augenblick der Hoffnung, den er im Umgang mit Victor erlebt hatte – seine raschen Fortschritte
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