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Das wilde Kind

Das wilde Kind

Titel: Das wilde Kind
Autoren: T.C. Boyle
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baumelnden Beinen und schlaff herabhängenden Armen, während rings um ihn her der Rauch aufstieg.
    Man stelle sich ihn vor, denn er selbst war dazu nicht imstande. Er kannte nur das Unmittelbare, spürte nur, was seine Sinne ihm mitteilten. Mit fünf Jahren war er, das kleine, unterernährte, störrische dreizehnte Kind einer störrischen Bauernfamilie, geistig ungeübt und der Spracheeigentlich nicht mächtig, von einer Frau, die er kaum kannte oder anerkannte, der zweiten Frau seines Vaters, in den Wald von La Bassine geführt worden, doch dort hatte sie nicht die Kraft gehabt, zu tun, was sie tun musste, sondern die Augen zusammengekniffen, als sie ihn am Haar gepackt und seinen Kopf so verdreht hatte, dass seine Kehle entblößt war, und so hatte das Küchenmesser sein Ziel verfehlt. Dennoch war der Schnitt tief genug gewesen. Sein Blut hatte auf dem Laub gedampft, er hatte dagelegen, zusammengesunken zu einem kleinen Nest aus Haut und Knochen, die Nacht war hereingebrochen, und die Frau hatte sich durch den Wald entfernt.
    Er besaß keine Erinnerung daran, keine Erinnerung daran, dass er umhergestreift war und nach Essbarem gesucht hatte, bis seine Bluse und die grobgewebte Hose zerrissen, zerschlissen und zerfetzt waren, keinerlei Erinnerung. Für ihn gab es nur den Augenblick, in dem er Dinge fangen konnte, die seinen Hunger stillten, Dinge, die keinen Namen und keine besonderen Eigenschaften hatten, außer dass sie vor ihm fliehen wollten: Frösche, Salamander, eine Maus, ein Eichhörnchen, junge Vögel, das süße und bittere Innere von Eiern. Er fand Beeren und Pilze, er aß Dinge, von denen ihm übel wurde, und das schärfte seinen Geruchs- und Geschmackssinn, so dass er Essbares von Ungenießbarem unterscheiden konnte. War er einsam? Hatte er Angst? Glaubte er an höhere Wesen? Niemand weiß es. Nicht einmal er selbst hätte es sagen können, denn er verfügte über keine Sprache, keine Vorstellungen, keine Möglichkeit zu wissen, ob er lebte oder wo er lebte oder warum er dort lebte. Er war wild, ein lebender, atmender Atavismus, und sein Leben unterschied sich nicht von dem irgendeines anderen Waldwesens.
    Der Rauch reizte seine Augen und nahm ihm den Atem. Das Feuer unter ihm breitete sich aus und kroch am Baum empor, und dann konnte er nichts mehr erkennen. Als er fiel, fingen sie ihn.

2

    Feuer kannte er – die qualmenden Glutnester, die zurückblieben, wenn die Bauern nach der Ernte ihre Felder abbrannten –, und durch Versuche hatte er gelernt, dass eine Kartoffel in der heißen Asche weich, wohlriechend und schmackhaft wurde, doch der Rauch des Feuers, das die Holzfäller entzündet hatten, hüllte ihn ganz ein, so dass die Luft, die er atmete, vergiftet war und er die Besinnung verlor. Messier hob ihn auf und fesselte ihn, und dann trugen die drei Männer ihn zu dem Dorf Lacaune. Es war später Nachmittag, zwischen den Baumstämmen senkte sich bereits die Nacht herab und verdichtete das Laub der Büsche, bis diese wie mit Teer überzogen wirkten. Die drei Männer hatten es eilig, nach Hause zu kommen und sich am Ofen zu wärmen – für April war es noch reichlich kalt, und der Himmel spuckte immer wieder Regen –, doch sie hatten diese staunenswerte Monstrosität gefangen und waren erfüllt von Verwunderung über ihre Tat. Der Junge hing bewusstlos über Messiers Schulter, und sie waren noch nicht an den ersten Häusern des Dorfs vorbei, da wussten schon alle, dass sie kamen. Père Dasquelle, der älteste Bewohner von Lacaune, der sich noch an den Großvater des toten Königs erinnerte, stand mit offenem Mund auf der Straße, sämtliche Kinderkamen hüpfend aus Häusern und Höfen gerannt und liefen ihnen in einer Traube nach, und ihre Eltern legten Hacken, Kellen und Kochlöffel beiseite und taten es ihnen gleich.
    Sie brachten den Jungen in die Taverne – wohin auch sonst? Vielleicht in die Kirche, doch das erschien ihnen nicht sinnvoll, noch nicht jedenfalls. Als Messier ihn durch die offene Tür DeFarge reichte, dem Wirt, schien der Junge zum Leben zu erwachen. Der Schmied hielt seine Beine fest im Griff und stützte ihn mit einer Hand unter dem Hintern, während DeFarge seine weichen weißen Wirtshände unter Schultern und Kopf legte. Hinter ihnen waren die beiden Gefährten Messiers und der ganze Rest des Dorfs: Kinder schrien, Männer und Frauen drängten sich, um besser sehen zu können, und aller Augen waren auf die offene Tür gerichtet, so dass ein Fremder hätte meinen können,
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