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Das weiße Krokodil

Das weiße Krokodil

Titel: Das weiße Krokodil
Autoren: C. C. Bergius
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mich geschlagen. Aber das sage ich dir gleich: meine Kameraden werden dich nur zum Teil verstehen.«
    »Ich will zufrieden sein, wenn du mich verstehst«, erwiderte Tie-tie, wobei er vorsichtig aufstand und die Hand ergriff, die ihm der Chinese zur Hilfestellung reichte. Dann kletterte er zwischen den Ruderern hindurch und seufzte wie erlöst, als er auf der vorderen Bank saß.
    Yen-suns Kameraden unterdrückten ein aufsteigendes Lachen.
    Tie-tie sah es, ließ sich jedoch nichts anmerken.
    »Fühlst du dich nun wohler?« fragte Yen-sun.
    »Wesentlich!« antwortete er zufrieden. »Und ich will dir auch sagen, warum. Weil ich mit ›sanfter Gewalt‹ erreichte, was ich auf andere Weise vielleicht nicht erreicht haben würde.«
    Yen-sun betrachtete ihn belustigt. »Sprichst du von unserem Platzwechsel?«
    »Nur bedingt. Er steht aber in engem Zusammenhang mit dem, was ich erreichen wollte.«
    »Drück dich verständlicher aus«, entgegnete Yen-sun unwillig.
    Tie-tie stützte sich auf seinen Pilgerstab. »Deinen Wunsch werde ich gern erfüllen. Zuvor möchte ich dir jedoch eine Geschichte erzählen, die mir eben eingefallen ist. Du wirst mich dann besser verstehen.«
    »Hoffentlich!« knurrte Yen-sun.
    »Bestimmt!« bekräftigte Tie-tie nachsichtig. »Und du sollst auch gleich wissen, daß ich dir kein Märchen, sondern eine wahre Begebenheit schildern werde, die sich zugetragen hat, als die Briten Rangun besetzten; also vor nahezu hundert Jahren. Die herrliche Hauptstadt beeindruckte die Engländer damals sehr, und von den Kunstschätzen waren sie so angetan, daß sie den Entschluß faßten, etliche Kostbarkeiten in ihre Heimat abzutransportieren. Zu ihnen zählte auch die uralte, schwere Bronzeglocke der Shwe-Dagon- Pagode, und du wirst dir vorstellen können, in welche Erregung die Bevölkerung geriet, als das Vorhaben der Besatzungstruppe bekannt wurde. Tausende wollten die ehrwürdige Glocke mit ihrem Leben verteidigen, aber da ergriff plötzlich ein kluger Mann das Wort. In aller Ruhe erklärte er: ›Wozu edles Blut vergießen, wenn wir die Möglichkeit haben, die Briten auf andere Weise daran zu hindern, unsere geliebte Glocke fortzuschaffen.‹
    ›Wie können wir das?‹ bestürmten ihn die Menschen.
    Er antwortete: ›Indem wir die sanfte Gewalt anwenden. Ich verspreche euch, daß die Glocke im Lande bleiben und eines Tages wieder in der Shwe-Dagon hängen wird, wenn ihr nichts gegen die Engländer unternehmt und sie ungestört tun laßt, was sie glauben, tun zu dürfen.‹
    Nun, das Volk vertraute dem geheimnisvollen Mann, der sich von Stund an in der Nähe der Pagode aufhielt und mit größter Aufmerksamkeit das Abseilen der schweren Glocke verfolgte. Und er ließ sie auch nicht aus den Augen, als sie zum Fluß geschafft wurde, wo man ihn des öfteren das Schiff umrudern sah, auf das sie verladen werden sollte. Aber dann trat etwas ein, das die englischen Ingenieure erschütterte: das Seil, mit dem das kostbare Stück emporgehoben wurde, riß plötzlich, und die Glocke sauste in den Irawady, wo sie so tief in den Schlamm eindrang, daß es den Briten trotz unendlicher Bemühungen nicht gelang, sie aus dem Fluß herauszuheben.«
    Yen-sun schlug sich erregt auf die Schenkel. »Hatte der geheimnisvolle Mann das Seil angeritzt?«
    Tie-tie hob die Schultern. »Ich kann es dir nicht sagen.«
    »Und was geschah weiter?«
    »Unser Freund blieb seinem Grundsatz treu und suchte die Engländer auf, die er sehr höflich bat, ihm zu versichern, daß er mit der Glocke machen könne, was er wolle, wenn es ihm gelingen sollte, sie dem Irawady zu entreißen. Die erste Reaktion war ein schallendes Gelächter, doch als der merkwürdige Mann die Briten verließ, trug er die erbetene Genehmigung in Form eines Dokumentes in der Tasche. Und wenige Tage später begannen Hunderte von einheimischen Tauchern damit, riesige Bambusmengen in den unter der Glocke liegenden Schlamm zu treiben. Wochen dauerte die mühselige Arbeit, dann war der Auftrieb so groß geworden, daß die ehrwürdige Glocke verhältnismäßig leicht gehoben und schließlich im Triumphzug zur Shwe-Dagon- Pagodezurückgebracht werden konnte.«
    »Großartig!« rief Yen-sun begeistert.
    Tie-tie nickte. »Ja, ja, mit sanfter Gewalt läßt sich vieles erreichen.«
    Der junge Chinese stutzte. »Jetzt aber heraus mit der Sprache: Was hast du erreichen wollen, als du den Platzwechsel vorschlugst?«
    Der greise Tie-tie deutete auf die unter seiner Sitzbank liegenden Gewehre.
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