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Das weiße Krokodil

Das weiße Krokodil

Titel: Das weiße Krokodil
Autoren: C. C. Bergius
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»Daß ihr dem weißen Krokodil nichts antun könnt, wenn es sich zufällig zeigen sollte.«
    Die letzte Strecke zur Sandelholz-Pagode führte durch einen Seitenarm des Muda, der teilweise so schmal war, daß der Urwald über ihm zusammenwuchs und ein grünschimmerndes Dach bildete, von dem armdicke Lianen wie Glockenseile bis auf das Wasser herabhingen. Das Tageslicht erstarb an solchen Stellen. Tie-tie glaubte manchmal, durch ein phantastisches Aquarium zu gleiten; ein Eindruck, der sich noch durch gluckernd aufsteigende Luftblasen, schwirrend umhersausende Libellen und träumerisch dahintorkelnde Riesenfalter verstärkte. Dann aber wurde die eigenartige und zeitweilig gespenstisch anmutende Wasserstraße wieder breiter und fiel ein so grelles Licht auf die Bäume, daß man geblendet die Augen schließen mußte.
    Der immer wiederkehrende Wechsel von Hell und Dunkel schien Tie-tie bedeutungsvoll zu sein und ließ ihn denken: Der Weg zur Sandelholz-Pagode gleicht dem des Lebens; durch Tore des Zweifelns und über Felder des Glaubens führt er zur Glückseligkeit.
    Er hatte es kaum gedacht, da steuerte das Boot in einen kleinen See hinein, auf dem große Wasserrosen blühten, deren gut zwei Meter durchmessende und am Rand nach oben gebogene Blätter schwimmenden Inseln glichen.
    »Allmächtiger!« entflog es ihm. Im nächsten Moment starrte er jedoch auf die am gegenüberliegenden Ufer errichtete Pagode, deren kühn geschwungene Dächer über den Dschungel hinweg in das Blau des Himmels hineinragten und an aufsteigende Vögel erinnerten. Sie stand auf einer künstlich geschaffenen Anhöhe, zu der in mehreren Abstufungen eine breite Steintreppe hinaufführte, die von geflügelten Löwen flankiert wurde, und wenn von weitem auch schon zu erkennen war, daß Gräser, Farne und Schlingpflanzen alles überwuchert hatten, so wirkte sie in ihrer Einsamkeit doch unberührt. Etwas Überirdisches ging von ihr aus, und Tie-tie spürte das Klopfen seines Herzens, als das Boot langsam auf sie zuglitt.
    Im Geiste weilte er bereits im Inneren der Pagode. Es ernüchterte ihn daher sehr, als Yen-sun ihn plötzlich lachend fragte: »Na, wie gefällt dir das Plätzchen?«
    »Oh…«, antwortete er betroffen. »Es ist so schön hier, daß ich nicht weiß, wie ich mich ausdrücken soll.«
    Yen-sun nickte zustimmend. »Es ist wirklich jammerschade, daß hier alles dem Verfall preisgegeben ist.«
    »Wie ist es nur dazu gekommen?« erkundigte sich Tie-tie.
    Yen-sun zuckte die Achseln. »Du weißt doch, daß die Errichtung einer Pagode eine lediglich für den Erbauer verdienstvolle Tat darstellt. Also kümmert sich nach dessen Tode niemand mehr um sie, wenn nicht zufällig ein öffentliches Interesse vorliegt.«
    Tie-tie blickte betrübt zu den beschwingt übereinanderstehenden Dächern empor, deren chromgelbe Majolikaziegel im Licht der Sonne wie pures Gold leuchteten. »Und wer schuf dieses herrliche Bauwerk?«
    »Ein steinreicher Chinese, von dem behauptet wird, daß er nur einen Gedanken gekannt habe: keinem Menschen etwas zu hinterlassen. Ausschließlich darum soll er sein ganzes Vermögen in die Sandelholz-Pagode gesteckt haben.«
    Tie-ties Gesichtsausdruck zeigte Bestürzung. »Und weshalb ließ er sie mitten im Dschungel errichten?«
    »Angeblich, damit niemand einen Nutzen aus ihr ziehen kann. Und das dürfte er erreicht haben. Wahrscheinlich ist dies die einzige Pagode, in deren Nähe weder Bettler, Wahrsager noch Andenkenhändler zu finden sind.«
    »Darüber will ich mich nicht beklagen«, erwiderte Tie-tie verwirrt. »Aber wie arm muß ein Mensch sein, der zum Sklaven seiner selbst wird.«
    Yen-sun machte eine wegwerfende Bewegung. »Darüber nachzudenken lohnt sich nicht.«
    Da bin ich anderer Meinung, wollte Tie-tie schon entgegnen, doch dann sah er das Ufer auf sich zukommen und dachte: Rechtes im falschen Augenblick zu sagen ist falsch und trägt keine Früchte. Viel wichtiger ist es in dieser Minute, dem Allmächtigen dafür zu danken, daß er mich hierhergeführt hat. »Om mani padme hum! O Kleinod in der Lotosblume, Amen!«
    Kurz darauf legte das Boot an der einstmals sicherlich sehr bequem gewesenen, nunmehr jedoch von Unkraut und vielerlei Gestrüpp bewachsenen Steintreppe an, und noch bevor die Ruderer ihre Riemen einziehen konnten, stieg Yen-sun über die mittlere Sitzbank hinweg und reichte dem greisen Tie-tie die Hand. »Komm«, sagte er mit aufmunternder Geste. »Ich halte dich. Du brauchst nicht zu befürchten, daß
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