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Das weiße Krokodil

Das weiße Krokodil

Titel: Das weiße Krokodil Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C. C. Bergius
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Gestalt zeigte ein vergoldetes Rad, dessen acht Speichen den achtteiligen Pfad der buddhistischen Lehre versinnbildlichten.
    »O Kleinod in der Lotosblume!« flüsterte Tie-tie, als er sich niedergekniet hatte und den Boden mit der Stirn berührte. »Reiche mir deine führende Hand, damit ich durch rechte Berufung und Anschauung, rechtes Wollen und Reden, Tun und Streben, Gedenken und Sichversenken erleuchtet werde und nach Ablauf dieses Lebens, von der Wiedergeburt befreit, zur vollendeten Seelenruhe in das Nirwana einkehren kann.«
    Nach dieser schlicht und ohne Pathos vorgetragenen Bitte erhob Tie-tie sich wie jemand, der ein gutes Gespräch mit einem Freund geführt hat. Dann blickte er prüfend um sich und begann mit einer Arbeit, die merkwürdig anmutete. Wo immer er ein Insekt, eine Raupe, Spinne, Eidechse oder sonstiges Lebewesen entdeckte, hob er es liebevoll auf, um es ins Freie zu tragen und dort behutsam abzusetzen. Dabei redete er mit ihnen, als könnten sie ihn verstehen. Er erzählte ihnen, daß ein Tempel nicht der rechte Ort für sie sei und daß es sich in der Wärme der Sonne und Schönheit der Natur viel angenehmer leben lasse als in einem dumpfen Raum, der nur wenig Nahrung und Abwechslung biete. Stundenlang wurde er es nicht müde, sich immer wieder zu bücken, um winzige Tiere aufzuheben und nach draußen zu tragen. Er beendete seine seltsame Tätigkeit erst, als sich die Sonne dem Horizont näherte und es Zeit wurde, das Abendgebet zu verrichten.
    Als lamaitischer Buddhist benötigte er dazu eine Gebetsmühle; er suchte deshalb den kleinen Nebenraum des Tempels auf, in dem Yen-sun ein bescheidenes Lager hergerichtet und alle mitgebrachten Habseligkeiten abgestellt hatte. Ein wenig schuldbewußt entnahm er seinem noch nicht ausgepackten Wanderbeutel die Gebetsmühle, die ihn schon seit Jahren begleitete, und nachdem er ihren mit Bittsprüchen beklebten Zylinder durch eine leichte Bewegung des Handgelenkes in Rotation versetzt hatte, schritt er durch den Tempel zurück ins Freie, um mit der abendlichen Umwanderung der Pagode zu beginnen.
    Er war aber noch nicht weit gekommen, da trat etwas ein, womit er nicht gerechnet hatte. Das klackernde und weithin vernehmbare Geräusch der Gebetsmühle scheuchte ein Rudel Affen auf, das in den Bäumen geschlafen hatte, und im Nu entstand ein infernalisches Gekreische, das sich noch verstärkte, als etliche der Tiere wie zum Angriff auf die Erde herabsprangen.
    Tie-tie, der erschrocken stehengeblieben war, sah den erregten Ausdruck ihrer Gesichter. »Seid unbesorgt!« rief er ihnen zu. »Ihr braucht keine Angst vor mir zu haben. Ich tue euch nichts!«
    Die Affen fletschten die Zähne. Tie-tie wich unwillkürlich einen Schritt zurück. Er glaubte zwar zu wissen, daß Makaken nicht gefährlich werden können, angesichts ihrer drohenden Haltung aber war er sich seiner Sache nicht mehr ganz sicher. Verdrängen lassen wollte er sich jedoch auf keinen Fall; er drohte deshalb mit dem Finger und wiederholte, was er schon gesagt hatte.
    Die Affen beeindruckte das in keiner Weise. Sie rückten näher an ihn heran, wobei sich ihr Geschrei zu einem wütenden Crescendo steigerte, so daß Tie-tie verzweifelt rief: »Nun glaubt mir doch! Ich bin nicht gekommen, um euch zu stören…«
    Weiter kam er nicht, da ein dunkler Gegenstand auf ihn zuflog, der unmittelbar vor ihm auf den Boden schlug und sich als eine Durian, die Königin der Früchte, herausstellte. Und noch bevor er sich von seinem Schreck erholen konnte, hagelten weitere Geschosse aus den Bäumen heraus. Kastanienartige Rambuttans wechselten mit Bananen, Cocanacs, Papayas, Mangopflaumen und sonstigen begehrenswerten Früchten in bunter Reihenfolge, und Tie-tie wollte das Feld schon räumen, als ihn ein Gedanke durchzuckte, der seine Haltung schlagartig veränderte.
    Was geschieht, wenn ich bleibe und nichts unternehme? fragte er sich. Die Affen müßten es dann eigentlich leid werden, mich pausenlos zu bombardieren.
    Es reizte ihn plötzlich, die Probe aufs Exempel zu machen. Er setzte darum seine Gebetsmühle wieder in Bewegung und blieb stehen, wo er stand.
    Die Makaken verfielen in eine entsetzliche Raserei. Sie schrien, als sollten sie aufgespießt werden, rasten auf Tie-tie los, machten jedoch unmittelbar vor ihm wieder kehrt und sprangen, wie von einer Tarantel gestochen, zurück auf die Bäume, aus denen weitere Fruchtsalven auf ihn herabprasselten.
    Tie-tie ließ sich nicht beirren. Er schüttelte zwar

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