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Das weisse Kaenguruh

Das weisse Kaenguruh

Titel: Das weisse Kaenguruh
Autoren: Matthias Praxenthaler
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lang, schmal, und außerdem stach es. Kaum hatte er sich wieder etwas berappelt und sich mit ein paar hektischen Kraulzügen in seichtere Gewässer gerettet, griff er nach unten und holte einen großen, rostigen Nagel aus seiner leuchtend roten Badehose.
    »Oma, Oma«, rief er, als er zu ihr an Land stürmte. »Schau mal, was ich in meiner Hose gefunden habe.«
    »Laß mal sehen«, sagte Oma Elisabeth.
    Sie nahm den Nagel in die Hand und ritzte mit dem Fingernagel eine kleine Kerbe in die blasige Oberfläche.
    »Er hat mich beinahe getötet«, behauptete Billy, setzte ein schmerzerfülltes Gesicht auf und zeigte auf die kleine Schramme, die sein Becken zierte.
    »Um Gottes willen«, tröstete die Oma. »Dann haben wir ja noch mal Glück gehabt. Wegen diesem Nagel ist immerhin schon mal ein Känguruh gestorben.«
    Billy schnappte sich neugierig ein großes Badetuch und setzte sich zu seiner Oma auf die Decke. Oma Elisabeth gab ihm einen Saft zu trinken und griff selber zu ihrem Rotweinglas. Dann fing sie an zu erzählen.

Das weiße Känguruh.
    Unter all den wundersamen Tieren, die in den unendlichen Weiten Australiens lebten, gab es eines, das ganz besonders besonders war. Es war ein Känguruh, doch allein schon durch sein Äußeres stach es aus der Menge seiner Artgenossen heraus. Sein Fell war so weich wie die Püschel von Pampasgras, und das, obwohl es nicht mehr ganz jung war, sondern eher steinalt, ja fast so alt wie der Kontinent selbst. Außerdem war es so strahlend weiß, daß sein Fell glänzte wie Kristallzucker. Seine Erscheinung war also äußerst ungewöhnlich, aber noch erstaunlicher war eine Eigenschaft, mit der kein anderes Geschöpf Australiens gesegnet war. Das weiße Känguruh konnte sprechen, und zwar alle Sprachen, die es gab. Ohne Probleme konnte es sich fließend in Wombati und Possisch unterhalten, es sprach akzentfrei Wellensittisch und natürlich konnte es tierisch gut schnabeln. Und als wäre das noch nicht genug, beherrschte es auch noch die Sprache der Aborigines.
    Für die Aborigines war das weiße Känguruh eine Gottheit. Sie liebten und verehrten es, und immer, wenn sie in seiner Gegend vorbeikamen, brachten sie ein paar Köstlichkeitenmit, um ihm eine kleine Freude zu machen. Dann setzte man sich gemeinsam unter einen Baum in den Schatten, plauderte fröhlich über das Wetter und andere Probleme oder tauschte sich über den neuesten Klatsch aus.
    Niemals wäre ein Aborigine auf die Idee gekommen, dem weißen Känguruh etwas anzutun. Warum auch? Schließlich zeigte sich der tierische Freund stets gutgelaunt und friedlich, und sein Beutel war immer offen für alle Sorgen, die seinen Zeitgenossen auf dem Herzen lagen. Jeder konnte sich mit seinen Fragen und Wehwehchen vertrauensvoll an das weiße Känguruh wenden. Selbstlos stand es dann mit Rat und Tat zur Seite und schöpfte seine Antworten dabei aus dem tiefen Brunnen seiner Weisheit, den es im Lauf unzähliger Jahre und Erfahrungen gegraben hatte. Keiner kannte das Land mit seinen Eigenheiten und Geheimnissen besser als das weiße Känguruh. Wie gesagt, es war fast so alt wie der Kontinent, und somit gab es nichts, das sich seiner Kenntnis entzog. Seine Freundschaft aufs Spiel zu setzen wäre also genauso töricht gewesen, wie sich selber einen Boomerang an den Kopf zu werfen.
    Gegen Ende des 18. Jahrhunderts bekam nun ein Mann namens James Cook von der englischen Krone den Auftrag, den fünften Kontinent in Besitz zu nehmen. Und dann ging alles ganz schnell. Die Neuankömmlinge drangen mit schamloser Neugier immer tiefer in die geheimnisvolle Welt Australiens vor und befehligten den ursprünglichen Frieden immer weiter zurück. Und natürlich war es auch diesmal so, daß die Eroberer mit ihren kurzsichtigen Augen die Wahrheit suchten und Fragen stellten, anstatt auf ihr Herz zu hören und Antworten zu bekommen. Eine der Fragen war, warum der Ayers Rock und das Land um ihn herum in dieses erhabene und strahlende Rot getaucht war. Die klügsten Wissenschaftler der damaligen Zeit wurden zu Rate gezogen, und sie taten das, was sie gelernt hatten. Sie taten wissenschaftlich und zerbrachen sich dabei den Kopf.
    Eines Tages begab es sich dann, daß eine Gruppe Eroberer Bekanntschaft mit dem weißen Känguruh machte. Es saß gerade im Lotussitz unter einem Eukalyptusbaum und meditierte, als ein Trupp von gut zwanzig Engländern seine göttliche Stille störte. Und natürlich staunten die Engländer nicht schlecht, als das sonderbare Tier
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