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Das weisse Kaenguruh

Das weisse Kaenguruh

Titel: Das weisse Kaenguruh
Autoren: Matthias Praxenthaler
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griff das weiße Känguruh zu dem langen Nagel, den es zu Beginn der Reise auf dem Boden des Oberdecks gefunden hatte und seitdem für alle Fälle in seinem Beutel versteckt hielt. Dann schloß es die Augen, atmete dreimal tief durch, pries ein letztes Mal den Herrn und stieß sich den Nagel mit letzter Kraft ins Herz.
    Als ein Maat das weiße Känguruh am folgenden Morgen regungslos und blutüberströmt in der Gefängniskajüte fand und der Schiffsarzt nur noch den Tod feststellen konnte, waren die Verantwortlichen außer sich vor Wut und warfen den toten Gefangenen kurzerhand über Bord. Nicht einmal die Ehre eines anständigen Seebegräbnisses ließen sie ihm zuteil werden. Genau diese Unverfrorenheit aber war es, die den Gott des Meeres über alle Maßen erzürnte. Angewidert schickte er sofort einen schrecklichen Sturm los, und Minuten später verschlang eine riesige Welle das Schiff der Engländer und begrub es samt der kompletten Mannschaft in den Tiefen der See.
    Auch der Leichnam des weißen Känguruhs wurde vomMeer verschlungen und mit der Zeit von seinen Bewohnern verspeist. Nur der Nagel blieb übrig. Er sank zum Meeresboden, wurde dort von einer starken Strömung erfaßt und Tausende von Seemeilen durch die Meere getragen. Im Lauf der Jahre setzte er eine fette Schicht Rost an und wurde schließlich am Strand von Corniglia an Land gespült. Und zwar genau in dem Moment, als Billy über den Sinn von Mädchen und den Unsinn von Brusthaaren nachdachte.

Meine Wahrheit, deine Wahrheit, keine Wahrheit.
    »Ist das wirklich so passiert?« wollte Billy wissen, als seine Oma mit ihrer Geschichte fertig war.
    »Natürlich«, sagte Oma Elisabeth und lächelte Billy an. »Das ist die Wahrheit.«
    »Das glaube ich dir nicht. Das hast du dir bestimmt alles nur ausgedacht. Es gibt gar kein Weißes Känguruh.«
    »Und warum nicht?«
    Nachdenklich schaute Billy abwechselnd seine Oma und den Nagel an, den sie immer noch in den Händen hielt.
    »Hast du schon mal eins gesehen?« fragte er schließlich zurück.
    »Ist das etwa wichtig?« antwortete sie. »Sieh mal, mit diesem rostigen Nagel ist es wie mit so vielen Dingen. Von außen sagen sie nichts. Aber unter dem Rost verbergen sich Geheimnisse, von denen lange Zeit keiner etwas erfährt. So lange, bis jemand beginnt, an der Oberfläche zu kratzen und darunter die Wahrheit zu suchen. Und sei es auch nur seine eigene.«
    »Das verstehe ich nicht«, sagte Billy ungeduldig. »Ist die Geschichte jetzt wahr oder nicht?«
    »Es ist ganz einfach. Wenn die Geschichte nicht wahr wäre, dann hättest du nur einen ganz normalen rostigen Nagel gefunden, der zufällig im Meer lag, oder? Aber wenn sie wahrist, hast du gerade einen echten Schatz gefunden. Und was ist dir wohl lieber? Ein ganz normaler Nagel oder ein echter Schatz?«
    »Ein Schatz natürlich«, antwortete Billy.
    »Dann würde ich an deiner Stelle ganz schnell und ganz fest daran glauben, daß es das weiße Känguruh gibt«, sagte Oma Elisabeth und gab Billy den Nagel zurück.

Mutterseelenalleinige Leidenschaft.
    Der rostige Nagel war das einzige Andenken an die Zeit in Corniglia, das Billy mit nach Hause nahm. Sorgfältig hatte er ihn in ein Stück Alufolie eingewickelt und in seinem Waschbeutel verstaut, damit er mit seinen krummen und morschen 17 Zentimetern keinen Schaden nahm auf der langen Heimreise mit der Bahn zurück nach Troisdorf. Der Nagel war das erste Stück in seiner Sammlung von verrosteten Eisenteilen, die er nach diesem Urlaub zusammenzutragen begann. Es war eine Sammlung völlig verschiedener Gegenstände, die mal gewöhnlich und mal absurd waren, und die alle eine Gemeinsamkeit hatten. Es waren Schätze. Wertlos auf den ersten Blick, doch unendlich kostbar, wenn man genauer hinsah. Weil sie alle eine Geschichte erzählten. Geschichten, die sich Billy ausgedacht hatte, und damit solche, die – zumindest für ihn – über jeden Zweifel erhaben waren.
    Alles, was er zufällig am Wegesrand fand, wurde fortan in seine Sammlung aufgenommen. Hauptsache Eisen, Hauptsache Rost.
    Am Anfang bewahrte er seine Schätze noch sorgfältig in einer alten Holzkiste auf. Später, als seine Sammlung zu groß für die Kiste wurde, begann er von seinem Taschengeld Billy-Regale zu kaufen. In weiß und stetig wachsender Zahl. So wurde mit den Jahren aus dem kleinen Peter der große Billy, und das, obwohl er trotzdem immer und irgendwie ein Kindblieb. Ein Träumer auf seine Art, fest verwurzelt im bürgerlichen Bodensatz
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