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Das Volk der Ewigkeit kennt keine Angst: Roman (German Edition)

Das Volk der Ewigkeit kennt keine Angst: Roman (German Edition)

Titel: Das Volk der Ewigkeit kennt keine Angst: Roman (German Edition)
Autoren: Shani Boianjiu
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zurück.
    »Avishag«, sage ich und rüttle heftig an ihr, »wo ist deine Mutter?«
    Avishag lässt die Augen zu. Noch im Halbschlaf, wölbt sie den Rücken und rückt den BH zurecht. Mit den langen Fingern fährt sie ihre goldene Halskette entlang, sie selbst ist so dunkel in den weißen Laken, dass sie fast schon zu präsent ist, und dann öffnet sie plötzlich die Augen.
    »Wahrscheinlich will sie zurück nach Hause«, sagt sie. »Das hat sie schon gesagt, bevor wir überhaupt erfahren haben, dass Dan … bevor wir alles wussten.«
    »Zurück nach Hause?«, frage ich. »Aber sie ist deine Mutter.«
    »Sie hat gesagt, sie zieht wieder zu ihrer Mutter nach Jerusalem. Sie hat gesagt, sie zieht nicht allein Kinder groß, wenn die dann losgehen und sich erschießen, und sie hat gesagt, ich biete nie an, den Abwasch zu machen, und dass ich jetzt eine erwachsene Frau bin und sie –«
    »Sie kann nicht weg sein«, sage ich. »Steh auf.«
    Aber Avishag schließt die Augen und dreht mir den Rücken zu, sie zieht sich die weiße Decke über den Kopf, als würde sie eine Höhle bauen.
    Judifizierung von Galiläa
    Ich gehe allein in die Schule. Ich weiß nicht, wo ich sonst hin soll, und ich kann nicht länger Avishags Rücken anstarren. Im Klassenzimmer sind nur drei Jungs, sie sitzen auf den Tischen und schauen sich eine Zeitschrift mit japanischen Autos an. Ein Stuhl liegt umgekippt da, und jemand hat den Mülleimer umgeschmissen, sodass überall Orangenschalen und Notizbuchseiten auf dem Boden verstreut sind.
    »Leas Mutter ist auch weg«, sagte einer von den Jungen. »Sie hat zu Lea gesagt, sie bleibt jetzt für immer in der Stadt, wo es Massagen gibt«, sagt er noch und beißt sich auf den Finger. »Aber ich glaube nicht, dass sie das wirklich macht. Und unsere Lehrerin Mira ist bestimmt auch bald wieder da.«
    »Dieses Dorf ist voll mit durchgeknallten Muttis«, meint ein anderer noch. Dann drehen sie mir den Rücken zu und stecken die Köpfe wieder über der Zeitschrift zusammen.
    Ich gehe raus und ringe nach Luft, ich schaue auf den Boden, aber über mir sind Raben und Platanen, und die Vögel kreisen vor der Sonne, sodass auf dem Asphalt zu meinen Füßen Punkte sind, die mir erst hier, dann da zuzwinkern, und ich mache den Mund auf und kotze, bis ich den Kopf wieder heben und weitermachen kann.
    Auf den Straßen ist überhaupt niemand zu sehen. Als sie vor knapp dreißig Jahren dieses Dorf gebaut haben, war das, weil Leute den genialen Einfall hatten, man sollte Galiläa judifizieren, vor allem an der Grenze zum Libanon. In der Region gibt es lauter leere braune Hügel, hat die Regierung gesagt, und wenn wir ein Land sind, können wir nicht alle nur in einem Teil davon leben. Also haben sie für extrem wenig Geld Land an Paare vergeben, die versprachen, in der Fabrik zu arbeiten, die sie im Dorf gebaut haben, und dadurch hatten die Paare Geld und ein Zuhause und dann auch Kinder.
    Allerdings haben sie nicht daran gedacht, dass Geld und Häuser Kinder hervorbringen, und dass Kinder unter anderem Busse brauchen. Jetzt kommt man nur weg, wenn man trampt.
    Ich stehe an dem alten Münztelefon am Ortsrand und halte den Daumen raus. Ich überlege, jemanden anzurufen, merke aber, dass ich keine Münzen habe.
    Als ein roter Subaru hält, beuge ich mich zum Fenster runter und rieche das Aftershave von dem Fahrer mit Bart. Er hört gerade »Macarena«, wirklich, kein Scheiß.
    »Wo willst du hin?«, fragt er.
    Auf dem Boden ist eine Schnecke, die langsam auf mich zugekrochen kommt, hinter ihr eine Schleimspur. Bald kommt der erste Regen in diesem Jahr. Bald sind Avishag und ich mit der Schule fertig. Und gehen zur Armee. Und alles. Sogar Prinzessin Lea muss zur Armee. Alle müssen.
    Und da wird mir klar, dass ich außerhalb von den tausend Häusern dieses Dorfes niemanden habe und allein auf dem lauwarmen Asphalt stehe.
    Ich sage dem Fahrer, ich kann genauso gut hierbleiben.
    Ich geh nicht den Hügel rauf
    Ganz einfach, weil ich mich nicht mehr anstrengen will, nur um beim Handymast Empfang zu haben, nur um mit jemandem zu reden. Ich laufe den gepflasterten Weg runter und zwischen den Fahrradständern durch und über die Müllkippe zum Videoautomaten, nehme einen Zwanzigschekelschein und entscheide mich für Mean Girls , weil ich alle anderen Filme in der Maschine schon mehr als einmal gesehen habe.
    Jetzt habe ich Kleingeld und laufe ans andere Ende des Ortes zurück. Der Telefonhörer des Münztelefons glitzert, so
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