Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das vierte Opfer - Roman

Das vierte Opfer - Roman

Titel: Das vierte Opfer - Roman
Autoren: H kan Nesser
Vom Netzwerk:
blieb er stehen und überlegte, ob er noch in den Stadtwald gehen und sich die Stelle anschauen sollte, beschloß dann aber, es bleiben zu lassen. Das würde bei Tageslicht sicher mehr bringen.
    Es gab noch eine ganze Menge anderer Dinge, die am nächsten Morgen auf ihn warteten, aber als er ins Bett kroch und den Kassettenrecorder anstellte, waren es nur noch Inspektor Moerks Worte, die ihm in den Ohren dröhnten.
    Nichts. Wir wissen rein gar nichts. Keinen Furz.
    Hübsche Frau, dachte er. Nur schade, daß man selbst nicht ein Vierteljahrhundert jünger ist.
    Und noch bevor das zweite Verhör seinen Anfang nahm, schlief er bereits wie ein Stein.

7
    Im Traum überfielen ihn die alten Bilder. Immer die gleichen Bilder. Die gleiche verzweifelte Ohnmacht, die gleiche sterile, weißglühende Wut – Gitte in der Sofaecke mit zerstochenen Armen und Augen wie schwarze, leere Brunnen. Dieser spindeldürre Zuhälter mit blauschwarzem, strähnigem Haar, der ihn grinsend ansah und auslachte. Der die Handflächen zur Decke hob und mit dem Kopf schüttelte... und der andere – ihr Gesicht über der Schulter des nackten Mannes. Ein verschwitzter, behaarter Rücken, dicke Arschbacken, die hart zustießen und sie an die Wand drückten, ihre gespreizten Beine und ihr Blick, in dem sich sein eigener widerspiegelte, der sieht, was er sieht... nur eine Sekunde lang, bevor er auf dem Absatz kehrt machte und sie verließ.

    Die gleichen Bilder ... und direkt über ihnen, sie durchdringend, das Bild einer fröhlich lachenden Zehnjährigen mit weizenblonden Haaren, die ihm am Strand entgegenläuft. Mit ausgebreiteten Armen und funkelnden Augen. Gitte...
    Er erwachte schweißgebadet, wie immer. Es dauerte ein paar Sekunden, bis er sich erinnerte, bis er sich wieder in der Gewalt hatte... die Waffe... das ziehende Glücksgefühl, als er sie durch die Luft schwang, und der dumpfe Laut, als sie ins Fleisch eindrang. Die leblosen Körper und das blubbernde Blut.
    All das Blut.
    Wenn doch dieses Blut nur die Bilder seiner Träume überspülen könnte. Sie zudecken, sie unkenntlich machen, sie zerstören könnte. Nicht wiederzuerkennen. Bilanz ziehen und wieder bei Null anfangen... aber eigentlich ging es ja nicht um seine Qualen. Es waren nicht die Bilder, um die es ging, es war das Motiv der Bilder... die Wirklichkeit hinter ihnen. Die Realität.
    Ihre Rache, nicht seine. Die Rache dieser Zehnjährigen, die angelaufen kam und plötzlich mitten im Leben gebremst wurde. Die mitten im Lauf angehalten und am nächsten Schritt gehindert wurde, genauso jäh und unerbittlich wie auf der Fotografie. Sie war es, um die es hier ging, und niemand sonst.
    Er tastete nach den Zigaretten. Wollte kein Licht machen, die Dunkelheit war genau richtig, er wollte jetzt nichts sehen... Es gelang ihm, ein Streichholz anzuzünden. Er zündete die Zigarette an und tat ein paar tiefe, entschlossene Züge. Spürte plötzlich, wie er wieder eine gewisse Wärme wahrnehmen konnte, ein im Körper aufsteigendes Gefühl, eine Welle, die anschwoll, sich bis in seinen Kopf ausbreitete und ihn zum Lachen brachte. Er dachte wieder an seine Waffe. Sah sie im Dunkel vor sich, ein gutgelaunter Macbeth mit einemmal, und er überlegte, wie lange er wohl warten mußte, bis es an der Zeit war, sie wieder sprechen zu lassen...

8
    Im klaren Morgenlicht und mit der frischen Brise vom Meer her schien Kaalbringen vergessen zu haben, daß sie eine Stadt in Angst und Schrecken war. Van Veeteren nahm ein spätes Frühstück auf dem Balkon zu sich, während er das Gewimmel von Menschen auf dem Fischmarkt betrachtete. Offensichtlich waren es nicht nur die Leckereien aus der Tiefe des Meeres, die an den Ständen unter den bunten Markisen gehandelt wurden, sondern eher wohl alles, was es zwischen Himmel und Erde gab. Samstagvormittag war Markttag, die Sonne schien, und das Leben ging weiter.
    Die Uhr in der niedrigen Kalksteinkirche schlug zehnmal, und er mußte sich eingestehen, daß er fast elf Stunden geschlafen hatte.
    Elf Stunden? Hieß das, daß er sich auf Mörderjagd befinden mußte, damit sich der richtige Nachtschlaf einstellte? Er köpfte sein Ei und dachte nach ... es erschien ihm absurd. Und was waren das für hinterhältige Gefühle gewesen, die ihn an diesem friedlichen Morgen überfallen hatten? Er hatte sie bereits unter der Dusche gespürt und versucht, sie abzuschütteln, aber hier draußen in der salzgeschwängerten Luft stiegen sie mit neuer Kraft wieder nach oben.
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher