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Das Verschwinden des Philip S. (German Edition)

Das Verschwinden des Philip S. (German Edition)

Titel: Das Verschwinden des Philip S. (German Edition)
Autoren: Ulrike Edschmid
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werden. Es ist die Zeit, in der die Akademie beginnt, auf ihre Anfänge zurückzublicken. Die experimentellen Filme der ersten Studenten werden den neuen Bewerbern während der Prüfung vorgeführt. Der Zufall will es, dass im Jahr 1992 der Einsame Wanderer zu den Aufgaben gehört. Mein Sohn folgt in seiner Analyse mit kurzen Sätzen der Linie des Todes, die sich durch die Bilder zieht. Als er sich selbst am Ende entdeckt, den kleinen Jungen, der aus dem Bildausschnitt läuft, sieht er darin ein Zeichen neuen Lebens. Der einsame Wanderer , schreibt er, sei der Film eines Mannes, den er geliebt, aber nicht gekannt habe. Er schreibt den Text auf der kleinen lindgrünen Hermes-Reiseschreibmaschine ohne »ß«, die Philip S. zurückgelassen hatte.
    Auf dem Rückweg vom hessischen Ried am Freitagabend bin ich nicht wieder in die Wohnung zurückgekehrt. Ich verbringe die Nacht bei einem Freund. Morgens hole ich Zeitungen am Kiosk. Es ist regnerisch und kühl. Unter dem fragenden Blick des Zeitungshändlers kaufe ich alle Tageszeitungen, die er ausgelegt hat.
    In der Nacht vom achten auf den neunten Mai, so lese ich, steht ein schlafloser Mann gegen ein Uhr am Fenster seiner Wohnung im Stadtteil Köln-Gremberg. Er meint, auf dem angrenzenden Parkplatz Autodiebe entdeckt zu haben, und ruft die Polizei. Sie kommt in dem Augenblick, als sich ein Auto vorwärts mit eingeschalteten Lichtern auseiner Parklücke in Bewegung setzt. Mit vier Einsatzwagen versperren sie dem Auto mit drei Insassen die Ausfahrt. Die Papiere werden überprüft. Die gefälschten Ausweise von Philip S. und einem anderen Gesuchten, der auf der Rückbank sitzt, erregen im Polizeicomputer keinen Verdacht. Als aber beim Ausweis des Fahrers, der nicht gefälscht ist, die gespeicherte Bezeichnung »Anarchist« auftaucht, verändert sich die Situation schlagartig. Die Polizisten greifen zu ihren Waffen und fordern die drei Männer auf auszusteigen.
    Was jetzt geschieht, ereignet sich innerhalb weniger Augenblicke zwischen zwei parkenden Autos, einem Zaun aus Maschendraht und drei Reihen Stacheldraht, die an Holzpflöcken durch das Gestrüpp einer winzigen Grünanlage gezogen sind. Philip S. öffnet die Beifahrertür, steigt aus und verharrt einige Sekunden, an das Auto gelehnt. Er stützt sich mit einem Arm auf dem Dach, mit dem anderen auf der geöffneten Tür ab. Noch sind seine Hände leer. Dann rennt er los. Alles könnte in diesen Sekunden durch seinen Kopf gegangen sein, die Aussichtslosigkeit, in der Dunkelheit aus einem umstellten Platz herauszukommen, drohendes Gefängnis oder die Gewissheit, dass er jetzt sterben wird. Vielleicht gab es aber auch nur einen einzigen Gedanken: dieser Situation zu entkommen, und sonst nichts. Vielleicht, so möchte ich es mir vorstellen, hatte er gar nicht den Tod vor Augen, sondern eine nie erfahrene Freiheit, auf die er in einem letzten anarchischen Aufbäumen gegen alle Vernunft zurannte, wie er es sich im Leben nie erlaubt hatte.
    Philip S. dreht sich um, rennt um das Auto herum, und während er rennt, zieht er die Waffe unter seiner Jacke hervor. Die ersten Schüsse aus der Waffe des Polizisten G.,heißt es später im Prozessbericht, treffen ihn noch auf der Höhe des Autos, aus dem er gerade gestiegen ist. Sie treffen ihn im Lauf, zuerst in den Oberschenkel, dann in den Rücken. Laufend schießt er zurück und trifft den Polizisten G. Der als Anarchist gespeicherte Fahrer des Autos wird beim Versuch, auszusteigen, ebenfalls von einem der Schüsse des Polizisten G. und auch von einer verirrten Kugel aus der Waffe von Philip S. getroffen. Er fällt aus der Tür. Philip S. ist bis zu dem Maschendrahtzaun gekommen. Er steckt wie in einem Käfig und wendet sich nach rechts. Der Polizist G. ist inzwischen auf das Pflaster gestürzt und schießt schwerverletzt noch einmal auf den aus der Autotür gefallenen Fahrer. Philip S. rennt jetzt nach rechts weiter, hinter anderen parkenden Autos entlang, und wird vom Polizisten P. in den Rücken getroffen. Immer noch rennend, schießt Philip S. zurück und trifft den Polizisten P. ins Herz. Der Polizist P., zwanzig Jahre alt, ist sofort tot. Dann hat Philip S. die winzige Grünanlage erreicht, kann aber in der Dunkelheit den Stacheldraht nicht erkennen. Er stürzt, fällt in ein Gestrüpp und bleibt liegen. Mit einem Bein hängt er im Stacheldraht fest, als der Polizist H. seine Waffe auf ihn richtet. Streifschüsse, Steckschüsse, Einschüsse, Durchschüsse werden später auf
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