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Das Verschwinden des Philip S. (German Edition)

Das Verschwinden des Philip S. (German Edition)

Titel: Das Verschwinden des Philip S. (German Edition)
Autoren: Ulrike Edschmid
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hat, heißt es, wären auch sie, da sie mit ihm zusammen waren, bereit gewesen, ihre Waffen zu gebrauchen, wenn sie gekonnt hätten. Lange geht die Anklage davon aus, dass Philip S. das Feuer eröffnet hat. Während des Prozesses aber werden sich die Polizisten, die an der Schießerei beteiligt waren, widersprechen und so den Zweifel säen, der schließlich dazu führt, dass beide Angeklagte im Juli des gleichen Jahres von dem Vorwurf des Mordes und des Mordversuchs freigesprochen werden. An manchen Stellen ist im Prozessbericht auch davon die Rede, dass Philip S., möglicherweise in Notwehr gehandelt habe und, wäre er noch am Leben und könnte sich verteidigen, ebenfalls vom Vorwurf des Mordes und des Mordversuchs hätte freigesprochen werden müssen. Aber er ist tot, und aus dem Zweifel an der Aussage der Polizisten kann sich keine Gewissheit mehr darüber bilden, wer zuerst geschossen hat. Von dem Verdacht, an der Entführung des Politikers beteiligt gewesen zu sein, wird er posthum entlastet, weil die Stechuhr einer Kölner Fabrik beweist, dass er zu der Zeit, als der Politiker auf einer kleinen Straße in Berlin-Zehlendorf in ein Auto gezerrt wurde, mit gefälschten Papieren an seinem Arbeitsplatz an der Stanze stand. Doch die Hintergründe jenes Zusammentreffens auf dem Parkplatz bleiben trotz der Aussagen, die die Angeklagten dazu machen, im Dunkeln.
    Ich kann mir nicht vorstellen, wie dieser, sein letzter Tag verlaufen ist. Ich weiß nicht, wie er in den Jahren, als er von der Polizei gesucht wurde, in seiner Wohnung am Rand eines Güterbahnhofs gelebt hat. In der Zeitung lese ich, dass er Urlaub genommen hatte, um mit einer Freundin zu verreisen. Irgendetwas Unvorhergesehenes muss sich dann ereignet haben, etwas, das ihn in der Nacht wider alle Vorsicht, bewaffnet und mit falschen Papieren zu einem der Polizei bekannten und ebenfalls bewaffneten Anarchisten in ein zweitüriges Auto hat steigen lassen, wo es für den Dritten, der auf der Rückbank saß, keinen Ausweg gegeben hätte. Mit ihm scheint Philip S. in Freundschaft verbunden gewesen zu sein. Im Gefängnis beschreibt jener die Trauer über den Tod seines Freundes. Die Äußerungen des Fahrers während und nach dem Prozess aber geben keinen Aufschluss über sein Verhältnis zu Philip S. Was auch immer sie miteinander verbunden haben mag, in jener Nacht tragen beide auf ihre Weise zu dem kommenden Verhängnis bei. Der eine durch seinen stets der Polizei verdächtigen Ausweis und der andere durch einen einmal geleisteten Schwur, nie mehr ins Gefängnis zu gehen. Den einen wird diese Nacht für sein Leben zeichnen, den anderen wird sie das Leben kosten. Was auch immer die drei Männer in dieser Nacht vorhatten, ohne Waffen hätte es keine Toten und Schwerverletzten gegeben. Philip S. wäre vielleicht mit ein paar Jahren Gefängnis davongekommen. Bei der Geschwindigkeit aber, mit der sein Leben ablief, hätte er die Jahre vermutlich als eine Vergeudung von Zeit empfunden. Ob er sich in seinen letzten Sekunden an dieWeissagung erinnerte, von der er mir einmal erzählt hatte, bleibt sein Geheimnis. Eine Handleserin in Zürich hatte ihm vor Jahren prophezeit, dass sich sein Leben vollenden werde, bevor er dreißig sei. Aber auf welche Weise, hatte sie gesagt, das liege in seiner Hand. In den ersten zehn Jahren nach seinem Tod glaubte ich ihn zuweilen vor mir zu sehen, auf der Straße, im Gedränge auf dem Markt am Samstag. Ich sah immer seinen Rücken vor mir, niemals sein Gesicht. Er hatte seinen vertrauten Gang. Sehr gerade und dennoch wie kurz vor dem Sprung.

Von seinen Dingen sind eine Nikon-Kamera mit drei Objektiven, einem Belichtungsmesser und einer Lupe in meinem Leben zurückgeblieben, mehrere Rollen Acht-Millimeter-Film, eine Hermes-Reiseschreibmaschine ohne »ß«, eine Fliegerjacke mit Lammfellkragen, ein Kinderschwert mit abgerundeter Spitze, geschweißt und geschmiedet in der Werkstatt von Otto und Ernst, ein Ordner mit Justizunterlagen, ein zweiter Ordner mit Geburtsschein, Tetanus-Impfbescheinigung, Anmeldebestätigung in Schöneberg aus dem Jahr 1969, eine Geburtsurkunde aus dem Jahr 1947 und das eidgenössische »Dienstbüchlein« mit seiner letzten Anschrift in Zollikon, Rainstraße 15, und der Erkennungsmarke, die jeder Schweizer besitzt, außerdem hier und da eine Randbemerkung in einem Buch, jedoch keine Briefe, dafür ein paar Fotos und ein Blatt Papier aus dem Winter 1968, als er in der Wohnung an den Bahngleisen nachts an dem ovalen
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