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Das Verschwinden des Philip S. (German Edition)

Das Verschwinden des Philip S. (German Edition)

Titel: Das Verschwinden des Philip S. (German Edition)
Autoren: Ulrike Edschmid
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Landstraße hinauf zu seiner neuen Schule läuft und sich, bevor er meinem Blick entschwindet, noch einmal umschaut und winkt. In ein Heft, das ich ihm als Tagebuch gegeben habe,schreibt er einen einzigen Satz: »An diesem Tag begann für mich die Welt.« Es ist ein Tag im Herbst 1973, kurz vor seinem achten Geburtstag, und es bleibt der einzige Satz, den er je in dieses Heft geschrieben hat. Ich habe ein neues Studium begonnen und fahre täglich in die Universität.
    Lange Zeit ist es still um Philip S. Die Zeitungen schweigen. Ich weiß nicht, wo er sich aufhält, ob in Berlin oder anderswo. Bis 1974 hat die Polizei unauffällig nach ihm gesucht. Eines Tages, im Spätsommer, hängt ein Fahndungsplakat mit seinem Foto an der Litfass-Säule vor meiner neuen Wohnung. Ich gehe täglich daran vorbei und frage mich, wie er lebt, mit falschem Namen, einem falschen Geburtstag, falschen Eltern und alten Erinnerungen, die er nicht mehr haben darf, und neuen Erinnerungen, die er haben muss, um ein anderer zu sein. Wenn ich stehen bleibe, schaut er mich an. Ich schaue zurück. Er lächelt. Manchmal lächle ich auch. Aus irgendeinem Grund vertraue ich darauf, dass er es überleben wird. Es ist seine Genauigkeit, die mir das Vertrauen gibt. Wenn ich ihn anschaue, rede ich mir ein, dass sein Schwur, nie mehr ins Gefängnis zu gehen, ihn noch einmal in ein anderes Dasein führen wird. Es wird ihm gelingen weiterzuleben, so wie er manchmal in meinen Träumen erscheint – ein Mann, der unbehelligt die Straße entlanggeht wie jedermann und der sich mit mir in einem Café trifft, wo niemand weiß, wer er ist, nur ich, die nach ihm sucht unter der glatten Unauffälligkeit, die jetzt sein Äußeres und auch sein Wesen beherrscht.
    Das wenige, was ich über seine letzten Jahre weiß, erfahre ich nach seinem Tod aus den Zeitungen, wo er Playboy ist und Terrorist, Millionärssohn, Bankräuber, Sprengstoffexperte, Verbrecher, anarchistischer Gewalttäter, Entführer,Automarder und Polizistenmörder. Über seinen Namen herrscht Verwirrung. Da gibt es seinen Geburtsnamen und den, den er später selber hinzufügt. Außerdem Decknamen, Oskar, oder auch Klaus, der in seinen gefälschten Papieren steht. Und dann noch Leo. Leo wie der Hund in Robert Walsers Roman Der Gehülfe , lese ich in dem Roman eines Schweizer Autors, der ihm auf Reisen mit falschen Papieren begegnet war und erst nach den Schüssen in Köln erfahren hat, wer sich hinter Leo verbarg. Philip S. hat in diesem Roman viele Gesichter. Ich muss ihn mir als eleganten Ganoven mit internationalen Beziehungen vorstellen, der Artikel über Spaltung und Führungsfragen in linken Gruppen schreibt, oder als Rebell, der noch während des Liebemachens für die Revolution kämpft, bei seinen Pariser Gastgebern einen Kunstband von Nicolas de Staël mitgehen lässt, das Ende der bürgerlichen Ordnung ausruft und vom Balkongeländer aus über die Avenue Foch hinweg Sätze aus Malraux’ Roman Die Hoffnung zitiert, oder als Bankräuber, der Süßigkeiten an Bankangestellte verteilt, während er sie in Schach hält.
    Und dann gibt es Anekdoten einstiger Weggefährten, nur noch einen Lacher wert, die man sich nach Jahrzehnten, längst der Gefahr entronnen, immer noch hinter vorgehaltener Hand erzählt, wie die Geschichte von einem bis in jedes Detail geplanten Autodiebstahl, wobei er ein wohlhabendes Stadtviertel ausgewählt habe, um einen Angehörigen der Oberschicht und keinen Werktätigen zu schädigen. Bei Tageslicht aber habe sich das gestohlene Auto als schrottreif erwiesen, und das einzig Brauchbare sei ein Werkzeugkasten und eine Wolldecke gewesen. Oder es ist von einem geheimen Waffendepot die Rede, das er so weit in die Erde versenkt haben soll, dass seine Kumpanenach seinem Tod das Graben schon hätten aufgeben wollen, dann aber doch weiterschaufelten, weil nur ein gründlicher Schweizer, redeten sie sich ein, Waffen so tief vergraben würde, nur ein Schweizer wie er.
    Im Februar 1975 taucht er auf, plötzlich und unvermittelt. Verschlüsselt angekündigt, sitzt er in einer Eckkneipe, die voll ist von Rauch und Menschen. Er sitzt da mit seinem falschen Namen, seiner Brille mit Fenstergläsern. Als ich den Raum betrete und mich dem Tisch nähere, steht er auf und begrüßt mich mit einer so flüchtigen Umarmung, dass ich nicht merke, ob er unter dem Jackett eine Waffe trägt oder nicht. Nur nichts Auffälliges, kein Gefühl, nichts, was an die Liebe erinnert, die es einmal gab. Ich
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