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Das Verschwinden des Philip S. (German Edition)

Das Verschwinden des Philip S. (German Edition)

Titel: Das Verschwinden des Philip S. (German Edition)
Autoren: Ulrike Edschmid
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sagt, Sätze, die nur noch Druck bedeuten und Zwang, dem ich entfliehen möchte. Aber ich nehme Aufträge mit: Treffen, die ich bis zur nächsten Nacht für ihn mit Codewörtern und Decknamen organisieren soll. Dann laufe ich schnell zurück, ohne Umwege, um zu Hause zu sein, bevor mein Kind aufwacht.
    Es wird Winter, und ich breche früher auf. Als ich in einer Nacht im Februar einen vereisten Fußgängerstreifen überquere, gerät ein Taxi ins Rutschen und bringt mich zu Fall. Der Taxifahrer besteht darauf, mich nach Hause zu fahren. Zum Schein öffne ich die Haustür, warte, bis er weitergefahren ist, und mache mich erneut auf den Weg. Auch der Bürgersteig ist glatt, ich gehe vorsichtig mit gesenktem Kopf und stoße mit einem Mann zusammen, der mich auffängt und an sich drückt. Ich lasse es geschehen. Er legt den Arm um mich, und ich gehe mit ihm. In einem spärlich beleuchteten Atelier schlafen wir miteinander. Neben dem Bett eine weiße Porzellantasse, in die er Reißnägel geklebt hat, in Kreisen, bis an den Rand. An den Wändengroßformatige Bilder mit breitem Pinselstrich. Wir sehen uns nie wieder.
    Philip S. hat während der Nacht auf mich gewartet. Als ich komme, bin ich durchgefroren, und er wärmt mich, möchte, dass ich bei ihm bleibe. Aber ich kann nicht mehr bleiben, weil die Liebe zwischen uns unter der ständigen Bedrohung zur Komplizenschaft geworden ist. Ich vergeude meine Kraft an etwas Verlorenes. In der Morgendämmerung laufe ich nach Hause. Ich sitze noch ein wenig in der Küche. Es ist aufgeräumt, das Geschirr gespült, alles ist still und bereit für morgen. Dann öffne ich leise die Tür zum Kinderzimmer, betrachte das Gesicht meines schlafenden Sohnes, in dem Gefühl, noch einmal davongekommen zu sein.
    Im Jahr 1972 wird die Kluft zwischen seiner legalen Existenz und seinem illegalen Tun tiefer. Das Doppelleben entwickelt sich zu einem immer größeren Balanceakt, bei dem er abzustürzen droht. Irgendwann in diesem Jahr holt ihn der Verrat ein. Es geht um Waffen und um einen Autodiebstahl. Verbindungspersonen geraten ins Visier der Schweizer Polizei und sagen schließlich unter Druck aus, über ihn und auch über mich. In einer Schweizer Zeitung wird an seinen Namen das Wort Bande angehängt, und weil sie nicht wissen, dass wir nur noch in seltenen Augenblicken ein Paar sind, ist mein Name dem seinen mit Bindestrich hinzugefügt.
    Die Nachricht erscheint auch in der deutschen Presse. Ab sofort sitzt ein Mann in einem Auto vor der Haustür und beobachtet das Tor. Mal steht das Auto direkt vor der Haustür, mal etwas entfernt. Ich gehe dicht daran vorbei, zeige, dass ich da bin und da bleiben werde. Aber ich nehme die Funktion eines Lockvogels ein, und die Wege zu Philip S. werden auch für mich immer gefährlicher. Noch immer arbeitet er an der Kunsthochschule. Als er eines Tages zu einer Vollversammlung gehen will, beobachtet er, wie an den drei Eingangstüren des Saals jeweils zwei Männer stehen, die nicht wie Studenten aussehen, und kehrt im letzten Moment um. Er geht nicht wieder in die kleine Wohnung zurück. Ich räume aus, was er an persönlichen Dingen zurückgelassen hat, und entferne den winzigen ausgerissenen Schnipsel eines Fotos, den er mit Tesafilm an einen Türrahmen geklebt hat. Mein Gesicht ist darauf nicht zu sehen, nur mein Körper, in Rom auf der Terrasse in der Sonne liegend. Als mich über Umwege die Hausnummer einer Parterrewohnung in Charlottenburg erreicht, verbringe ich die letzte Nacht mit ihm in einer Liebe, deren Aussichtslosigkeit eine kaum erträgliche Wehmut hinterlässt. Unter der Verkleidung eines Bankbeamten oder Autoverkäufers ist er noch einmal der, der er für mich war.
    Nach zwei Banküberfällen holt ihn der zweite Verrat ein. Einer der Bankräuber, erfahre ich später, erreicht das Fluchtauto nicht rechtzeitig und gibt bei seiner Verhaftung alle Namen preis. Nachdem auch ein anderer Beteiligter verhaftet worden ist und aussagt, wird Philip S. per Haftbefehl gesucht. Noch steht er nicht öffentlich auf der Fahndungsliste, dennoch vervollständigt er seine Verwandlung und bewegt sich jetzt mit falschen Papieren. Der doppelte Verrat hat erreicht, worauf er sich lange vorbereitet hat. Auch der letzte Hinweis auf seine Person muss getilgt werden. Er kann nicht mehr zurück, ohne seinen Schwur zu brechen.
    Wir treffen uns jetzt an öffentlichen Orten, wenn eretwas braucht. Er ruft kurz vorher aus einer Telefonzelle an, meldet sich mit dem neuen Namen
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