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Das Verschwinden des Philip S. (German Edition)

Das Verschwinden des Philip S. (German Edition)

Titel: Das Verschwinden des Philip S. (German Edition)
Autoren: Ulrike Edschmid
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wollende Räume, einer schöner eingerichtet als der andere. Tagsüber ist unser Leben leicht und voller Bewegung. An den Abenden aber, wenn unsere Kinder schlafen, sitzen wir in der halbleeren Wohnung und halten zuweilen mitten im Gespräch inne, wenn uns einfällt, dass wieder keine Post gekommen ist. Dann versucht jede eine aufsteigende Ahnung niederzuhalten, dass unsere Männer, die an der Akademie in Berlin ihre ersten Filme drehen, mit anderen Frauen zusammen sein könnten. Als der Mietvertrag ausläuft, packen wir alles zusammen und räumen die Wohnung aus. Rot-weiß gestrichene Böcke und Bretter, die uns als Tische dienten, tragen wir zurück auf die Baustellen, von denen wir sie geholt hatten. Kinderbetten und Matratzen hatten uns amerikanische Künstler ausgeliehen, die sie wieder an sich nehmen würden, sobald wir uns nach der letzten Nacht auf den Heimweg gemacht hätten.
    Es war eine Freundin, die in meinem Bett gelegen hatte. Dass sie in meiner Abwesenheit auch meine Kleider getragen hat, erfahre ich von einer Nachbarin. In jenen Frühlingstagen bin ich in anderen Stadtteilen unterwegs, besuche die Menschen, die ich dort kenne, und lasse mir nichts anmerken. Wenn ich keine Besuche mache, gehe ich mit meinem Kind am Ufer des Landwehrkanals spazieren, bis ich an die Mauer komme, wo die Stadt endet, und kehre wieder um. Ich schiebe den Kinderwagen an Kellerwohnungen vorbei: Auf geblümten Wachstuchdecken schwankt der Lichtkreis nackter Glühbirnen hin und her. Ein alter Mann sitzt am Tisch, eine Frau. Oder ein Paar, das schweigt. Abends, wenn mein Kind schläft, setze ich mich an den großen Zeichentisch im Ladenraum. Zwischen den Materialien für meine Doktorarbeit über einen expressionistischen Schriftsteller liegen noch die Standfotos von den Dreharbeiten des Sokrates-Films. Ich starre auf Bücher und Papiere, ohne einen Gedanken fassen zu können. Durch die Milchglasfolie auf den Schaufensterscheiben sehe ich Schattenrisse von Menschen, die sich kurz auf den Sims setzen und dann weitergehen.
    Im Morgengrauen des zweiten Juni wache ich von Geschrei auf. Ich sehe Umrisse von Polizisten, die einen Knäuel bilden, einen wabernden Haufen. Arme mit Stöcken und Beine mit schweren Stiefeln lösen sich aus dem Knäuel Sie schlagen und treten auf einen Menschen ein, der am Boden liegt. Wie gelähmt stehe ich hinter Glas. Das ist die Welt, denke ich, in der mein im Hinterzimmer schlafendes Kind aufwachsen soll. Nachmittags gehe ich zur Demonstration gegen den persischen Schah. Aber ich bleibe mit dem Kinderwagen am Rand, tauche nicht ein in die Menge. Abends geht das Gerücht von einem toten Demonstranten um. Das Foto des erschossenen Studenten gehört zu den unauslöschlichen Erinnerungsbildern meiner Generation. Nichts blieb, wie es gewesen war.
    Im Spätsommer höre ich auf, an die Rückkehr meines Mannes zu denken, und suche mir eine neue Wohnung. Ich finde sie im Herbst, in Charlottenburg, in einer Straße an den Bahngleisen. Alle drei Minuten fährt eine S-Bahn zwischen Bahnhof Friedrichstraße und Bahnhof Wannsee vorbei. Die meisten Dinge im Bäckerladen habe ich zusammengepackt, zwei durchgesessene Ledersofas lasse ich zurück. Auf dem Flur der Filmakademie organisiere ich von dem schwarzen Telefon aus meinen Umzug. Philip S. lehnt an der Wand und hört mir zu. Er trägt einen Anzug mit Nadelstreifen und ein Hemd mit einem Monogramm, das sichtbar wird, wenn er die Hand in die Hosentasche steckt. Ich trage ein altmodisches Kleid aus Kunstseide und Stiefel. Er sagt: »Ich möchte Ihnen gerne helfen.« An den Wörtern »möchte« und »gerne« höre ich, dass er Schweizer ist.
    Er kommt am nächsten Tag in einem langen schwarzen Mantel, schleppt Kisten und Möbel die Treppen hochund bleibt. Er kündigt sein Zimmer im Souterrain einer Villa, durch dessen halbhohe vergitterte Fenster er die Reifen der Lastwagen sah, die auf einer breiten Ausfallstraße von der Grenzstation Staaken in die Stadt und wieder aus der Stadt hinaus nach Westdeutschland rollen. In meine Wohnung kommt er mit einer lindgrünen Hermes-Reiseschreibmaschine ohne »ß«, einem lindgrünen Koffer und einer Fotoausrüstung, für die er Fächer eingepasst hat in eine alte Arzttasche mit Stangenverschluss: eine Spiegelreflexkamera, drei Objektive, vierundzwanzig, fünfzig und hundertfünf Millimeter, die passenden Sonnenblenden, eine Lupe, Drahtauslöser, Belichtungsmesser, Reinigungspinsel, Ledertuch. Die Kamera war in Zürich gekauft
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