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Das Verschwinden des Philip S. (German Edition)

Das Verschwinden des Philip S. (German Edition)

Titel: Das Verschwinden des Philip S. (German Edition)
Autoren: Ulrike Edschmid
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Kinderladenerscheint in seinem Arbeitszimmer, nimmt ihm die Seiten vom Tisch weg, kopiert sie und bringt das Original zurück. Wir sagen, dass wir den Text für unsere Arbeit mit den Kindern brauchen, und zwar sofort, nicht irgendwann. Aus dem Text machen wir eine Broschüre, fügen unsere Gedanken und leere Seiten für eigene Notizen hinzu und geben den Aufsatz von Walter Benjamin schneller heraus als der Doktorand und der Verlag, der die Rechte besitzt: Wir legen die gedruckten Seiten auf einem langen Tisch aus, gehen um den Tisch herum, legen Seite um Seite zusammen, wobei sie manchmal durcheinandergeraten. Alles wird gefalzt und geheftet. Die fertigen Broschüren bringen wir in Buchhandlungen, wo sie als Raubdrucke unter dem Ladentisch verkauft werden. Mit dem Geld bezahlen wir die Miete und den Lohn für die Person, die täglich im Kinderladen für uns arbeitet. Wenn das Geld immer noch nicht reicht, putzen wir nachts gemeinsam Büros. Wir wischen über Tische, auf denen kein Staub liegt, rücken Schalen mit Kugelschreibern rechtwinklig neben Telefone und Adressenroller. Wir leeren Papierkörbe mit ein paar Blättern in einen Müllsack, wischen über Bürostühle und an Fensterbänken entlang und schieben den Staubsauger durch das nächtliche Schweigen beleuchteter Großraumetagen.
    Es ist einer der letzten sonnigen Tage des Jahres 1968. Der Kinderladen hat noch einen Ausflug gemacht, bevor es kalt wird. Philip S. steht neben einem parkenden Auto auf einer schmalen Straße, die am Rand einer Wiese entlangführt. Er hat den Tag mit den Kindern verbracht und wartet, dass sie sich auf die Autos der Eltern verteilen, um am späten Nachmittag nach Hause gefahren zu werden. Als letztes ist ein kleines Mädchen zu einer der Mütter auf den Rücksitzeines Volkswagens geklettert. Was dann passiert, geht so schnell, dass niemand später sagen kann, wer im Durcheinander des Aufbruchs die Autotür zugeschlagen hat. Auch sie, die losfahren will, hört nur einen Schrei, der im Lärm der anderen Kinder auf der Rückbank fast untergeht, bis sie begreift, was geschehen ist, und die Tür wieder aufreißt. Aus dem Türschloss löst sich eine kleine, weiche Kinderhand. Kein Blutstrom, nur ein dünnes rotes Rinnsal, dort wo eben noch das letzte Glied eines Ringfingers war, das jetzt fehlt.
    Die Kinder von der Rückbank rennen zu den anderen Autos. Philip S. hält das Mädchen fest in den Armen, und sie rasen zum nächstgelegenen Krankenhaus im Westend. Vor dem Eingang springt er aus dem Auto. Die Fahrerin sieht noch seine Hand auf dem Kopf des zitternden Kindes liegen, während er mit schnellen Schritten auf die Notaufnahme zueilt und sie einen Platz sucht, um das Auto abzustellen. Dann ist er in den langen verzweigten Gängen verschwunden, von der Notaufnahme in die Chirurgie. Vom ersten Augenblick an, erinnert sie sich vierzig Jahre später, sei Philip S. davon ausgegangen, während er das Kind im Arm hielt und sie das Auto halsbrecherisch durch die stillen Straßen des Berliner Westend lenkte, dass das Fingerstückchen wieder angenäht werden könne. Wenn die Chinesen einen ganzen Arm wieder annähen können, hatte er gesagt, werden sie in Deutschland wohl ein Fingerglied annähen können. Er habe das Kind nur in die Obhut der Ärzte geben wollen, um sich dann auf die Suche nach dem winzigen, abgerissenen Teilchen zu machen. Als er in kalter Wut zum Auto zurückkommt, hält er das weinende Kind immer noch im Arm. Die Operation der Chinesen, so die Ärzte im Krankenhaus, sei nichts als kommunistische Propaganda.Die Blutgefäße an dem fehlenden Fingerteil seien längst abgestorben, es lohne nicht, danach zu suchen, und da das Stück vom Türschloss abgerissen und nicht glatt abgeschnitten worden sei, müsse der Finger, einer sauberen Lösung wegen, wie sie es ausdrückten, um ein weiteres Glied verkürzt werden. Bei dem Ausdruck »saubere Lösung« sei es zu heftigem Streit gekommen. Worte wie »Gammler«, und »verantwortungslos« seien seitens der Ärzte gefallen, während er mit »faschistoider Medizin« zurückgeschlagen habe.
    Der verletzte Finger war zwar in der Notaufnahme gereinigt und verbunden worden, das Kind hatte auch ein Schmerzmittel bekommen, aber man hatte Philip S. nach dem Streit nicht mehr telefonieren lassen. Von einer Telefonzelle aus versucht er, einen befreundeten Arzt im Neuköllner Krankenhaus zu erreichen. Sofort, hört er am anderen Ende, solle er nach dem Finger suchen und kommen. Das kleine Mädchen
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