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Das Verschwinden des Philip S. (German Edition)

Das Verschwinden des Philip S. (German Edition)

Titel: Das Verschwinden des Philip S. (German Edition)
Autoren: Ulrike Edschmid
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schreit jetzt nicht mehr, von Zeit zu Zeit gibt es ein Wimmern von sich oder ein müdes Schluchzen, und sie, die Fahrerin, hört leise schweizerdeutsche Worte, die er ihm zuflüstert. Dann schläft das Kind ein, und in der hereinbrechenden Dämmerung erreichen sie die Stelle, wo irgendwo unter Laub, Gras und Erde der winzige abgetrennte Teil eines Mädchenfingers liegen muss.
    Er konnte sich erinnern, dass das Auto neben einem Gully gestanden hatte. Straßenfeger hatten begonnen, in der Nähe des Gullys Laub am Straßenrand zusammenzukehren und auf einen kleinen Laster zu werfen. Mit Streichhölzern leuchten sie in das Abflussgitter. Die Straßenfeger helfen ihnen, den Rost hochzuheben. Philip S. wühlt vorsichtig mit der Hand durch Dreckklumpen und Matsch. Dann tastet er das Fingerglied mit dem Fingernagel, nicht größer als ein Apfelkern, und legt es in ein Tempotaschentuch.
    Vom Nordwesten Berlins rasen sie über die Stadtautobahn in den äußersten Südosten. Am Krankenhauseingang werden sie bereits mit einer Kühldose für das Fingerstückchen erwartet. Das schlafende Kind wird in die Arme einer Schwester gelegt. Als die Eltern im Krankenhaus ankommen, machen sich Philip S. und seine Begleiterin auf den Heimweg.
    Er hat nicht mehr erfahren, dass wenige Jahre später nahezu keine Spuren mehr an der Hand des Mädchens zu sehen waren, bis auf eine blasse Narbe, die sich wie ein schmaler Ring um das Fingergelenk legte und vermutlich irgendwann ganz verschwand.

X
    Im Herbst flammen die Auseinandersetzungen an der Filmakademie wieder auf. Ein Anwalt wird als Rädelsführer der Proteste angeklagt, die nach den Schüssen auf den Studentenführer am Springerhochhaus stattfanden. An der Akademie entsteht in geheimer Produktion ein Film, der Handlungsanweisungen für die bevorstehende Demonstration liefert. Ich habe vergessen, ob Philip S. daran mitgearbeitet hat, aber auf dem Flohmarkt kauft er sich eine Militärjacke mit vielen Taschen, die für Steine vorgesehen sind. Am Morgen des vierten November geht er zum Landgericht am Tegeler Weg, wo der Prozess beginnt. Die Demonstration gerät zu der gewalttätigsten Auseinandersetzung mit der Polizei, die es in den Jahren der Studentenbewegung je gegeben hat. Pflastersteine liegen wie zufällig auf einem Lastwagen bereit. Später wird bekannt, dass der Lastwagen von einem »Agent provocateur« am Straßenrand abgestellt wurde. Zum ersten Mal werden mehr Polizisten als Demonstranten verletzt. Zum ersten Mal bilden die Demonstranten Reihen und gehen eingehakt auf die Polizisten zu. Zum ersten Mal wird Tränengas eingesetzt. Was geschieht, entwickelt sich zu einer Schlacht, bei der am Ende niemand weiß, ob einer von den zweitausenddreihunderteinundsiebzig Steinen, die danach auf der Straße gezählt werden, einen Menschen getroffen hat. Zum letzten Mal tragen die Polizisten die altmodischen Tschakos, die an Pickelhauben erinnern. Für die nächsten Einsätze werdensie mit Helm und Visier ausgerüstet, bis sie dann gänzlich hinter Schutzschilden verschwinden. Danach beginnt unter den Studenten eine neue Diskussion, in der versucht wird, die Trennungslinie zwischen Gewalt gegen Sachen und Gewalt gegen Menschen zu bestimmen. Ob Philip S. Steine gegen Sachen oder gegen Menschen geworfen hatte, konnte er im Tumult selbst nicht auseinanderhalten.
    Drei Wochen später wird er mit siebzehn anderen Studenten von der Akademie verwiesen. Feindseligkeiten, die ein halbes Jahr zurückliegen und nicht ausgeräumt worden waren, haben zu diesem Schritt geführt, ein beleidigendes Flugblatt, der Rauswurf eines Studenten, der das Flugblatt verfasst hatte, und ein dem Direktor entrissener Zettel, auf dem er sich die Namen all jener notiert hatte, die in seinem Büro die Zurücknahme des soeben ausgesprochenen Verweises forderten. Der Direktor jedoch konnte sich auch ohne Zettel an alle erinnern. Er zeigte sie an wegen Hausfriedensbruch, weil sie in sein Zimmer eingedrungen waren, wegen Nötigung, weil sie versucht hatten, ihm eine Diskussion aufzuzwingen, die er nicht führen wollte, und wegen Gewaltanwendung beim Entreißen des Zettels mit den Namen. Die Briefe kommen am nächsten Tag. Für achtzehn von vierundfünfzig Studenten ist die Ausbildung beendet.
    Obwohl sie damit gerechnet hatten, ist es ein Schock. Es steht in allen Zeitungen, aber sie wollen auf einer Veranstaltung in der Freien Universität selbst darüber berichten. Das Plakat zeigt eine Kamera, neben deren Objektiv Gewehrläufe
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