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Das verschollene Reich

Titel: Das verschollene Reich
Autoren: Michael Peinkofer
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wird.«
    Sibylla nickte nachdenklich. Sie wechselte einen langen Blick mit ihrer Schwester, deren Hand sie inzwischen so krampfhaft hielt, dass es schmerzte – und hatte das Gefühl, dass die Bürde jener Macht, nach der sie ihr Leben lang gestrebt hatte, sie in diesem Augenblick fast erdrückte.
    »Bitte, edler Balian«, flüsterte sie mit dünner Stimme, ihre Tränen nicht länger zurückhaltend, »ich bin nur ein schwaches Weib, das von Kriegsdingen nichts versteht. Wollt Ihr mir helfen, die Stadt zu verteidigen?«
    Balian zögerte keinen Augenblick.
    »Meine Klinge gehört der Krone, meine Königin«, erwiderte er, die Hände auf Griff und Heft seines Schwertes legend, »daran hat sich nie etwas geändert.«
    Sibylla nickte, dankbar, jedoch ohne Erleichterung.
    So also, dachte sie bitter, endet der Traum von einem christlichen Königreich Jerusalem.
    Weder der Ehrgeiz eines Guy de Lusignan hatte ihn bewahren können noch die Gier eines Mannes wie Raynald de Chatillon, und auch der scheinbar unbesiegbare Orden der Templer hatte die Stadt am Ende nicht retten können. Ebenso wenig wie jener geheimnisvolle Priesterkönig, auf den Sibylla all ihre Hoffnung gesetzt hatte.
    Der Traum war zu Ende.

EPILOG
    »Wirst du dann zu den Deinen zurückzukehren wünschen, so wanderst du heim mit Schätzen reich beladen.«
    Brief des Johannes Presbyter, 31 / 32
    Jerusalem
Januar 1188
    Nur ein Jahr war verstrichen. Doch als sie die letzte Steigung überwanden und von der Höhe des Ölbergs auf Jerusalem blickten, kam es Rowan vor, als hätte er die Heilige Stadt seit einer Ewigkeit nicht mehr gesehen.
    Die goldene Kuppel des Felsendomes, die im Vordergrund aufragte, erschien ihm seltsam fremd, ebenso das graubraune Häusermeer, das sich jenseits davon erstreckte. Dann, plötzlich, ging ihm auf, dass sich seit seiner Abreise tatsächlich etwas verändert hatte, dass es eine andere Stadt war, auf die er blickte.
    Denn auf keinem einzigen der unzähligen Türme, die sich in den klaren Winterhimmel reckten, erblickte Rowan ein Kreuz. Das Zeichen der Christenheit, das fast ein Jahrhundert lang die Heilige Stadt beherrscht hatte, war aus den Mauern verbannt worden.
    Die Erkenntnis kam nicht überraschend.
    Auf zahllosen Wegstationen ihrer Reise hatten sie davon gehört: von der vernichtenden Niederlage, die das christliche Heer bei Hattin erlitten hatte, vom Fall Acres und Jaffas und vom Kampf um Jerusalem. Mit all seiner Heeresmacht hatte sich Saladin auf die Heilige Stadt gestürzt, doch unter der Führung Balians von Ibelin hatte sich solch massiver Widerstand gebildet, dass der Sultan schließlich zu Verhandlungen bereit gewesen war. Indem er drohte, den Felsendom und die große Moschee zu zerstören, erreichte Balian, dass ein Großteil der christlichen Bevölkerung die Stadt gegen Lösegeld verlassen durfte. Wer es sich leisten konnte, war nach Norden gezogen, in diejenigen Küstenstädte, die noch unter christlicher Herrschaft standen. Die Armen hingegen waren gefangen und in die Sklaverei verkauft worden. Wie zu hören war, hatten auch Königin Sibylla und ihre Schwester Jerusalem verlassen und hielten nun Hof in Tripolis, wo Graf Raymond ihnen Unterschlupf gewährt hatte.
    »Es ist so gekommen, wie du es vorausgesehen hast«, sagte Rowan, an Cassandra gewandt. Er hatte sein Gesichtstuch zurückgezogen, und sein Haar war zu sehen. Die Tonsur hatte er nicht mehr erneuert, sodass es wild und wirr seinen Kopf bedeckte. »Jerusalem ist untergegangen.«
    »Nein.« Sie schüttelte den Kopf. Wie er trug auch sie einen Kaftan, dazu ein Tuch, das nach arabischer Art geschlungen war und nur ihre Augenpartie frei ließ. »Inzwischen weiß ich, dass es nicht der Untergang von Jerusalem war, den ich sah. Der König mag abgezogen sein, das Banner der Christenheit nicht mehr über den Türmen wehen. Die Stadt jedoch existiert noch immer.«
    »Und das wird sie auch weiterhin«, fügte Bruder Cuthbert hinzu, der von seinem Esel gestiegen war und den Hals des Tieres tätschelte. Nicht auf dem Rücken von Pferden oder Kamelen waren sie zurückgekehrt, sondern einfachen Pilgern gleich, die zur großen Wallfahrt aufgebrochen waren – und die das Ziel ihrer Reise nun verschlossen fanden.
    »Könige kommen und gehen. Seit Saulus’ Tagen hat Jerusalem unzählige von ihnen gesehen, doch die Heilige Stadt hat sie alle überdauert, und das ist gut so.«
    »Empfindet Ihr denn keine Bitterkeit, Meister?«
    »Worüber? Darüber, dass ein Drama, dessen
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