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Das verschollene Reich

Titel: Das verschollene Reich
Autoren: Michael Peinkofer
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Gegebenheiten, die sie vorgefunden hatten: kein prächtiger Palast, sondern eine Burg im Fels; keine wundersamen Geheimnisse, sondern nur Aberglaube; kein mächtiger König, sondern ein eitler Stammesfürst, der mit Mühe zusammenhielt, was von seinem Volk noch übrig war.
    In den vergangenen Monaten hatte Rowan oft darüber nachgedacht, was aus Fürst Ungh-Khan und den nestorianischen Christen geworden war. Er würde es wohl nie erfahren, aber er ertappte sich dabei, wie er sich wünschte, dass es den Keraiten gelungen wäre, die Angreifer zurückzuschlagen; dass sie noch immer dort in den Bergen lebten, am Ende der bekannten Welt, in ihrem verschollenen Reich.
    »Ich verstehe«, sagte er leise. »Gewissheit würde den Menschen die Hoffnung nehmen. Ihr aber wollt sie ihnen lassen.«
    »In der Tat«, erwiderte Bruder Cuthbert, wobei er einmal mehr wie ein Junge lächelte. »Hoffnung dürfte in diesen Tagen der wertvollste aller Schätze sein.«
    »Auch dann, wenn sie trügerisch ist?«, fragte Cassandra, und Rowan wusste das Spiel ihrer dunklen Augen inzwischen gut genug zu deuten, um zu wissen, dass sie es nicht einfach so dahinsagte.
    »Trügerisch?«, fragte er. »Hast du in die Zukunft des Königreichs geblickt? Weißt du, was geschehen wird?«
    »Nicht mit Bestimmtheit.« Sie schüttelte den Kopf. »Aber was ich in meinen Träumen sehe, lässt mich vermuten, dass Sibylla niemals nach Jerusalem zurückkehren wird, ebenso wenig wie ihre Schwester Isabela, die nach ihr die Krone erben wird. Beide werden Kriege führen, und noch mehr Menschen werden sterben, doch das Königreich Jerusalem wird niemals neu erstehen.«
    »Noch mehr Krieg?« Rowan schauderte. »Wird dieses Land denn niemals zur Ruhe kommen? Niemals Frieden finden?«
    Cassandra schwieg, und eine Weile standen sie nur da und blickten hinunter auf die Stadt, auf das Tor von Sankt Stephan, durch das eine Kolonne Reiter zog, an deren Lanzen das gelbe Banner des Sultans wehte. Eine seltsame Traurigkeit breitete sich in Rowan aus, und er begriff, dass der Augenblick gekommen war, vor dem er sich insgeheim die ganze Zeit gefürchtet hatte.
    »Wohin wirst du gehen?«, fragte er leise.
    Sie zuckte mit den Schultern. »Zurück nach Frankreich, denke ich. Ich möchte den Ort sehen, von dem ich stamme, auch wenn nichts mehr davon übrig ist.« Sie wandte den Blick und schaute ihn an. »Und du? Willst du nicht in deine alte Heimat zurückkehren?«
    Rowan dachte kurz nach, wog den Gedanken ab, der ihm früher so erstrebenswert erschienen war, nun jedoch etwas Befremdliches hatte. »Ich glaube nicht«, sagte er. »Mein Platz ist hier.«
    Sie nickte, und ihre Blicke trafen sich, berührten einander für einen langen Augenblick.
    Sie hatten darüber gesprochen, den Abschied bereits vorweggenommen. Nun jedoch, da der Moment der Trennung gekommen war, schmerzte er sehr viel mehr, als Rowan erwartet hatte.
    Sie hatten das Lager nicht mehr geteilt, waren einander nicht mehr nah gewesen, weil es ihm falsch und unaufrichtig erschienen war. Doch hatte die Enthaltsamkeit weder seine Zuneigung noch sein Verlangen gemindert. Nur mit Mühe konnte er sich davon abhalten, sie an sich zu ziehen und seine Lippen auf die ihren zu pressen, ein letztes Mal …
    »Leb wohl, Rowan«, sagte sie leise.
    »Leb wohl«, flüsterte er.
    »Bruder Cuthbert.« Sie nickte dem Benediktiner zu, der sich ein wenig abgewandt hatte, als wollte er ihren Abschied nicht stören.
    »Geh in Frieden, mein Kind«, erwiderte er. »Du hast alles getan, um die Dämonen der Vergangenheit abzuschütteln. Möge der Herr dich auf deinem Weg beschützen.«
    »Ich danke Euch.« Sie nickte und bedachte sowohl Cuthbert als auch Rowan mit einem letzten, undeutbaren Blick. Dann zog sie den Zügel herum und trieb den Esel mit dem Stock an.
    »Cassandra!«, rief Rowan ihr nach.
    Sie hielt inne und blickte über die Schulter zurück. »Ja?«
    »Wie lautet dein richtiger Name?«
    Sie schien verblüfft, Unentschlossenheit stand in ihren Zügen zu lesen.
    »Verzeih«, sagte Rowan, »ich dachte, du könntest dich an alles erinnern …«
    Ein Anflug von Heiterkeit ließ ihre Augen leuchten und sie überirdisch schön erscheinen. »Ich erinnere mich«, versicherte sie, »an Gutes ebenso wie an Schlechtes – und auch an meinen Namen. Er lautet Alicia.«
    »Alicia«, flüsterte Rowan, während er zusah, wie sie ihren Esel erneut herumdrehte und über einen von Akazien beschatteten Felsenpfad davonritt.
    »Alles in Ordnung?«, fragte
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