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Das verschollene Reich

Titel: Das verschollene Reich
Autoren: Michael Peinkofer
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Lehrer«, entgegnete Rowan.
    Cuthbert wollte etwas erwidern, als ein Schatten auf sie fiel. Rowan blickte auf – und erschrak.
    Es war Fürst Ungh-Khan.
    Die Plattenrüstung des Keraitenführers war blutbesudelt, ebenso wie sein Schwert, das er blankgezogen hatte. In seinen schmalen Augen stand namenloser Schrecken zu lesen, in seinen bleichen Zügen lag jedoch bittere Entschlossenheit.
    Rowan wollte etwas sagen, wollte versichern, wie sehr er bedauerte, was geschehen war, denn obwohl er nichts für Mercadiers Verrat konnte, fühlte er sich verantwortlich. Ihrer aller Schicksale, so kam es ihm vor, waren eng miteinander verwoben, jeder von ihnen schuldbeladen, auf die ein oder andere Weise.
    Doch zum einen war er weder des Griechischen mächtig, noch hätten die wenigen Worte, die er in den vergangenen Wochen von der Sprache der Keraiten aufgeschnappt hatte, ausgereicht, um all dies zu erklären. Zum anderen war Rowan selbst nicht sicher, ob er wirklich alles verstand. Wo begann ihre Verstrickung, und wo endete sie? Trug Bruder Cuthbert die größte Schuld, weil er den Auftrag der Königin angenommen und sich auf die Suche nach dem verschollenen Reich begeben hatte? War Cassandra schuldig, weil sie Verrat geübt und den Feind ans Ziel geführt hatte? Oder er, Rowan, weil er seinem Herzen nachgegeben hatte, statt treu zu seinem Meister zu stehen?
    Oder war die Schuld vielmehr in der Vergangenheit zu suchen, beim Überfall auf ein unscheinbares kleines Dorf namens Forêt? Bei Mercadier, der sie alle getäuscht und betrogen hatte? Oder bei Kathan, der seine Gelübde gebrochen und damit zum verderblichen Kreislauf von Hass und Gewalt entschieden beigetragen hatte? War die Herrschsucht Königin Sibyllas der Anlass für all dies gewesen und der unselige Zwist um die Krone? Hatte ihr Vater Amalric bereits die Saat des Untergangs gesät? Oder Cuthbert, als er sich weigerte, dem Ruf des Königs zu folgen und sich auf die Suche nach dem Reich des Presbyters zu begeben? Hatten die Keraiten selbst ihren Untergang heraufbeschworen, als sie jenen Brief verfassten und damit den Mythos vom Priesterkönig begründeten? Oder lagen die Ursachen noch viel tiefer, in heidnischem Aberglauben und blindwütigem Hass? Trug die menschliche Natur die Schuld an allem, was geschehen war?
    Fürst Ungh-Khan sagte etwas, und Rowan war sicher, dass es ihr Todesurteil war. Bruder Cuthbert, der sich ein Stück an der Felswand hochgezogen hatte, sodass er dort halb aufgerichtet saß, starrte den Anführer der Keraiten jedoch voller Unverständnis an. Er stellte ihm eine Frage, und Ungh-Khan antwortete darauf mit einem schiefen Grinsen, woraufhin Rowan seinen Meister fragend ansah.
    »Wir … sind frei«, eröffnete dieser mit tonloser Stimme.
    »Was?«
    »Der Fürst sagt, dass wir frei sind und gehen können. Dieser Kampf, sagt er, sei nicht mehr der unsere.«
    »Aber …« Rowan konnte nicht glauben, was er hörte. Hatte er nicht am eigenen Leib zu spüren bekommen, zu welcher Grausamkeit das Oberhaupt der Keraiten fähig war? Hatte er ihm nicht um ein Haar das Augenlicht genommen? Und nun, da sein Volk vor der Vernichtung stand, wollte er sie einfach ziehen lassen?
    Auch Bruder Cuthberts Blick verriet Erstaunen, worauf Ungh-Khan noch einige weitere Worte sprach, die der Mönch übersetzte: »Der Fürst hat gesehen, wie wir den Jungen gerettet haben. Er weiß jetzt, dass wir ihn nicht verraten haben. Er war es, der befohlen hat, dass das Tor noch einmal geöffnet wurde. Und er will, dass wir die Festung verlassen.«
    »Wie?«, fragte Rowan.
    »Es gibt einen geheimen Gang«, übertrug Cuthbert die Antwort. »Die Frauen und Kinder der Keraiten haben ihn vergangene Nacht benutzt, um ungesehen aus der Burg zu gelangen.«
    Rowan nickte. Deshalb hatte er den ganzen Morgen über nur Männer in der Burg gesehen. Fürst Ungh-Khan hatte Vorkehrungen für den Fall getroffen, dass der Zweikampf verloren ging.
    Vermutlich, dachte er, hätte er erleichtert sein sollen, aber er empfand nur Beschämung. Er murmelte das Wort, das in der Keraiten-Sprache Dank ausdrückte, und beugte ehrerbietig das Haupt. Cassandra und Bruder Cuthbert taten es ihm gleich. Ungh-Khan bedachte sie mit einem Blick, der unmöglich zu deuten war, dann nickte er ihnen zu und ging, wandte sich wieder seinen Unterführern zu, um die Verteidigung der Bergfestung zu organisieren.
    »Also«, meinte Cuthbert, an Rowan und Cassandra gewandt, »worauf wartet ihr? Der Fürst lässt euch gehen, also
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