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Das verschollene Reich

Titel: Das verschollene Reich
Autoren: Michael Peinkofer
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Brandgeruch tränkte die kalte Luft. Dem Mädchen schossen Tränen in die Augen. Das ganze Dorf brannte, nicht eine einzige Hütte war verschont geblieben – doch mehr noch als die lodernden Feuer bestürzten das Mädchen die leblosen Körper, die rings um die brennenden Hütten verstreut lagen, blutbesudelt und mit zerfetzten Kehlen. Und da waren zwei Wölfe, die sich an ihrem Fleisch weideten, der eine kräftig und mit dunklen, fast schwarzen Augen, der andere dürr, knochig und mit rötlichem Fell.
    Wie ein Irrlicht huschte der Widerschein der Flammen über das von namenlosem Entsetzen gezeichnete Gesicht des Kindes, das nicht mehr in der Lage war, sich zu regen. Wie erstarrt stand es da, den kleinen Mund zu einem stummen Schrei geöffnet – als der Feuerschein plötzlich von einem Schatten verdunkelt wurde.
    Das Mädchen blickte nach oben und erkannte erschrocken, dass sein Verfolger es eingeholt hatte: Oberhalb der Mündung des Hohlwegs stand der große graue Wolf auf einem Felsen. Mit eisfarbenen Augen betrachtete er sein Opfer, machte jedoch keine Anstalten, sich auf es zu stürzen.
    Ein endlos scheinender Augenblick verstrich, in dem das Mädchen das Gefühl hatte, vor Angst und Entsetzen den Verstand zu verlieren. Und plötzlich hatte es das Gefühl, das tiefe Knurren, das aus der Kehle des Untiers drang, zu verstehen.
    »Sie werden kommen«, sagte die Bestie. »Die Wölfe werden kommen.«
    In diesem Augenblick erwachte das Mädchen aus seinem Albtraum.
    Berwickshire, Schottland
Frühjahr 1173
    »Warum, Mutter? Warum nur?«
    Zum ungezählten Mal wiederholte der Junge die Frage, doch wie zuvor bekam er auch diesmal keine Antwort. Nicht, weil seine Mutter, eine junge, zerbrechlich wirkende Frau mit milden, von pechschwarzem Haar umrahmten Zügen, ihm nicht hätte antworten wollen – sondern weil sie es nicht konnte. Sie begnügte sich damit, ihrem Sohn tröstend über das lange schwarze Haar zu streichen und zu lächeln, auch wenn ihr nicht danach zumute war.
    »Es ist alles gut, Rowan«, sagte sie, während sie mühsam mit den Tränen kämpfte. »Es ist alles gut.«
    »Nein«, widersprach der Junge entschieden und blickte hilflos an ihr empor, »es ist nicht gut! Ich will nicht mit diesem Mann mitgehen, verstehst du? Ich will bei dir bleiben!«
    Sie holte tief Luft und versuchte, ihren pochenden Herzschlag zu beruhigen, doch es wollte ihr nicht gelingen. »Dieser Mann«, erwiderte sie, jedes Wort bedachtsam wählend, »ist dein Vater, Rowan.«
    »Ich will aber nicht, dass er mein Vater ist«, erwiderte der Junge trotzig, wobei sich eine kurze, senkrecht verlaufende Zornesfalte in der Mitte seiner Stirn bildete.
    »So etwas darfst du nicht sagen«, wies sie ihn sanft, aber bestimmt zurecht. »Sir Robert de Morvaie ist nicht nur dein Vater, sondern auch Sheriff des Königs und damit der mächtigste Mann von Berwickshire. Und er will nur das Beste für dich.«
    »Das Beste?« Die Zornesfalte wurde noch ein wenig tiefer. »Wenn er nur das Beste für mich will, warum muss ich dann fort von dir?«
    »Es steht uns nicht zu, die Entscheidungen deines Vaters zu hinterfragen, Rowan. Wenn er uns etwas befiehlt, so sind wir ihm zum Gehorsam verpflichtet.«
    »Du vielleicht«, knurrte der Junge. »Ich nicht!«
    »Rowan!« Das gütige Gesicht der Mutter wurde streng. »So etwas darfst du niemals wieder sagen, hörst du? Niemals wieder! Sir Robert hat gut für uns gesorgt in all den Jahren – nun musst du ihm zeigen, dass du sein Vertrauen und seine Zuwendung verdient hast.«
    »Was bedeutet das? Ich verstehe nicht …«
    Sie seufzte abermals. Ihr Herzschlag beruhigte sich daraufhin ein wenig, nicht aber der Schmerz, der in ihrer Brust tobte und sie fast zerreißen wollte. Am liebsten hätte sie dem Jungen gesagt, dass er, obschon erst acht Winter alt, nur allzu recht hatte; dass sein Vater kaltherzig und gefühllos war und es ihr das Herz brach, ihren Sohn mit ihm ziehen zu lassen. Aber das konnte sie nicht. Nicht um ihrer selbst willen – und auch nicht um Rowans willen.
    »Dein Vater hat weise entschieden«, behauptete sie, nachdem sie sich mit einem weiteren tiefen Atemzug gestärkt hatte. »Du wirst es bei den Mönchen gut haben. Das Kloster von Melrose ist weithin bekannt für seine Gelehrten. Du wirst dort lesen und schreiben lernen, und man wird dich die Sprache der Kirche lehren.«
    »Ich will aber nicht!« Rowan schüttelte heftig den Kopf. »Ich will bei dir bleiben, Mutter!«
    Er klammerte sich an sie,
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