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Das verschollene Reich

Titel: Das verschollene Reich
Autoren: Michael Peinkofer
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den Türbogen, der so niedrig war, dass er sich bücken musste. Das Pendel ließ er dabei unter seiner Robe verschwinden.
    Jenseits des Türbogens herrschte schummriges Halbdunkel. Die Vorhänge an den hohen, mit arabischen Bogen versehenen Fenstern waren zugezogen, sodass sie das einfallende Sonnenlicht dunkelrot färbten. Teppiche bedeckten die Wände und den Boden, der wiederum von großen seidenen Kissen übersät war. Der Geruch von Myrrhe und anderen Kräutern, die in einer flachen Schale verbrannt wurden, lag schwer und einschläfernd in der warmen Luft.
    Hätte Cuthbert es nicht besser gewusst, hätte er die Kammer für das Domizil eines Orientalen gehalten; erst beim zweiten Hinsehen wurde offenbar, dass ihr Bewohner christlichen Glaubens war: in lateinischer Schrift und Sprache gehaltene Bücher, ein Dreiecksschild mit dem Abbild eines Löwen, ein mit Gemmen besetztes Kruzifix. Wenig bis nichts wies jedoch darauf hin, dass dies das Gemach des mächtigsten Mannes in Jerusalem war.
    »Bruder Cuthbert, mein König«, kündigte der Diener an, ehe er sich ebenso leise wie respektvoll zurückzog.
    Cuthbert blieb stehen, das Haupt so weit gesenkt, wie es einem weltlichen Herrscher zukam. Jenseits der Schleier, die von der Decke hingen und den Arbeitsbereich vom Schlafraum trennten, war schemenhaft die Gestalt des Monarchen zu erkennen.
    Amalric war feist geworden.
    Nur noch wenig erinnerte an den Mann, der vor nunmehr sieben Jahren in Nachfolge seines Bruders Baldwin den Thron von Jerusalem bestiegen hatte. Obwohl er noch keine vierzig Winter gesehen hatte, war der König ein alter Mann, gebeugt nicht nur durch die Last seines Körpers, sondern auch durch die der Ereignisse, die sein Leben und seine Herrschaft verdunkelten.
    »Kommt näher, mein Freund«, forderte er Cuthbert in seiner langsamen, bedächtigen Sprechweise auf, die ihm bei Hofe den Ruf eines Zauderers eingetragen hatte, tatsächlich jedoch ein Teil seines Wesens war. »Ich muss gestehen, dass mich Unruhe befällt, nun, da Ihr hier seid.«
    »Das tut mir leid, mein König.« Cuthbert leistete der Aufforderung Folge und trat durch den Wall der Schleier. Ganz offenbar war Amalric allein in seiner Kammer, was nur äußerst selten der Fall war. Der König hatte die Neigung, sein Gehör Beratern aller Art zu schenken, die oft genug nur den eigenen Vorteil im Sinn hatten. Sie waren der Grund dafür, dass Cuthbert sich in den vergangenen Jahren mehr und mehr vom Hof zurückgezogen und wieder dem Klosterleben zugewandt hatte. Umso überraschter war er gewesen, als der König ihn plötzlich zu sich gerufen und mit einer Aufgabe betraut hatte.
    Der König von Jerusalem thronte auf einem Haufen seidener Kissen, die jedem muselmanischen Wesir zur Ehre gereicht hätten. Sein Gewand bestand aus grünem Brokat mit goldfarbenen Borten und war nach orientalischer Art geschnitten. Die einstmals edlen Züge waren rot und wirkten aufgedunsen, das lange blonde Haar hing in fettigen Strähnen. Der Bart, der die untere Hälfte seines Gesichts überwucherte, war lang und ungepflegt.
    »Seid mir gegrüßt, alter Freund.«
    »Mein König.« Cuthbert verneigte sich.
    »Wisst Ihr, dass es fast dreißig Jahre her ist, da wir uns zum ersten Mal begegneten? Ich war noch ein Knabe damals, und mein Vater Fulk hatte Euch als meinen Lehrer ausgewählt.«
    »Fürwahr eine lange Zeit.«
    »Ihr habt mir beigebracht, dass wir die uns gegebene Zeit auf Erden nutzen müssen«, fuhr Amalric fort, »geradeso, als ob Ihr kein Mann des Glaubens, sondern ein Anhänger des alten Epikur wärt. Ich muss oft daran denken. An Eure endlosen Lektionen in lateinischer Literatur. An Eure Beharrlichkeit, wenn es darum ging, Syllogismen und philosophische Lehrsätze zu studieren.«
    »Ihr wart ein sehr begabter Schüler«, erkannte Cuthbert an.
    »Noch mehr als Euer Wissen jedoch«, fuhr der König fort, ohne auf das Lob einzugehen, »habe ich stets Eure Ehrlichkeit geschätzt. Als Herrscher von Jerusalem bin ich von Lügnern umgeben – von solchen, die mir übelwollen, aber auch von Speichelleckern, die mir aus reiner Gefallsucht das Wort reden. Ihr jedoch habt in all den Jahren stets das ausgesprochen, was Ihr dachtet, auch wenn es mir nicht gefiel. Deshalb habe ich Euch und niemand anderen mit dieser wichtigen Sache betraut.«
    »Ich danke Euch, mein König«, versicherte Cuthbert und verbeugte sich abermals. »Ich weiß Euer Vertrauen zu schätzen.«
    »So habt Ihr die Schrift geprüft, die zu
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