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Das verschollene Reich

Titel: Das verschollene Reich
Autoren: Michael Peinkofer
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vernichtende Wirkung. Zu Hunderten rannten Saladins Krieger gegen die Burg der Keraiten an, lange Holzpfähle heranführend, in die sie Trittkerben geschlagen hatten, damit sie als behelfsmäßige Leitern dienten. Immer wieder verdunkelten Schwärme von Pfeilen den Himmel, um kurz darauf wie ein vernichtender Hagel über dem Vorhof der Felsenburg niederzugehen. Die erste Welle war bei Weitem die verheerendste gewesen und hatte die meisten Opfer gefordert. Die Keraiten, die sich versammelt hatten, um dem schicksalhaften Zweikampf beizuwohnen, hatten sich nicht schnell genug in Sicherheit bringen können. Panisch hatten die Männer versucht, sich ins Innere der Felsenburg zu flüchten, doch weder war das Tor breit genug für den Ansturm, noch reichten die entlang der Mauer errichteten Unterstände aus, um ihnen allen Schutz zu bieten, und so hatten die zu Tausenden abgeschossenen Pfeile der Sarazenen reichlich Nahrung gefunden.
    Nicht nur Krieger der Keraiten waren gefallen, auch Knechte und Pferdeburschen waren unter den Opfern, viele davon dem Kindesalter kaum entwachsen – ein schreckliches Blutbad, dessen Zeugen Rowan und Cassandra wurden. Zusammen mit Bruder Cuthbert hatten auch sie Deckung gesucht und sie im Schutz eines Mauervorsprungs gefunden, hinter den sie sich pressten, hoffend, dass keiner der Pfeile sie finden würde, während ringsum der Tod reiche Ernte hielt. Grässliche Schreie erfüllten die Luft, überall wälzten sich Männer am Boden, in deren gepeinigten Körpern Pfeile steckten, während oben auf den Mauerkronen der Kampf um die Festung von Mann zu Mann ausgetragen wurde, von Angesicht zu Angesicht.
    Viele der behelfsmäßigen Leitern, die die Angreifer anlegten, um die Mauer und die gähnende Kluft, die das Plateau durchlief, zu überbrücken, wurden von den Verteidigern zurückgestoßen und brachen in die Tiefe, oftmals mitsamt ihren Besatzungen; andere barsten, weil zu viele Angreifer zugleich darübersetzen wollten, und wurden ebenfalls vom mörderischen Abgrund verschlungen. Wieder andere jedoch hielten der Beanspruchung stand und ermöglichten es Mercadiers Kriegern, die Ummauerung des Vorhofs zu erklimmen, wo sie sich mit Mut und Zähigkeit behaupteten. Ihre Stärke zu Pferde konnten die ghulam im Einsatz gegen die Felsenburg nicht ausspielen, doch indem sie mit ihren gekrümmten Klingen um sich hieben, verbreiteten Saladins gepanzerte Krieger auch zu Fuß Angst und Schrecken. Noch vermochten die Keraiten ihnen mit ihren kurzen Schwertern und kleinen Schilden Einhalt zu gebieten, doch es war nur eine Frage der Zeit, wann der Damm endgültig brechen und dem Feind ungehinderten Zugang zur Burg verschaffen würde.
    Rowan hatte den Gedanken kaum zu Ende gebracht, da ertönte ein heiseres Hornsignal. Fürst Ungh-Khan, der hinter einem schützenden Wall aus Schilden Stellung bezogen hatte und seine Krieger von dort aus zu führen versuchte, ließ zum Rückzug blasen. Der Kampf um den Innenhof der Burg verlangte zu viele Opfer. Offenbar hatte der Anführer der Keraiten entschieden, sich in die Felsenburg zurückzuziehen, wo er einem Angriff sehr viel länger standhalten konnte.
    Die Krieger gehorchten dem Befehl, sofern sie es vermochten. Diejenigen, die in unmittelbare Gefechte verwickelt waren, blieben auf ihren Posten, um den Feind weiter am Eindringen zu hindern und ihren Kameraden so den Abzug zu ermöglichen. Nie zuvor hatte Rowan Männer mit größerer Tapferkeit und Todesverachtung fechten sehen. Vermutlich, sagte er sich, lag es daran, dass die Keraiten nicht nur für ihren Lehnsherren kämpften, für den Besitz von Land oder religiöse Ideale – sondern um nicht mehr und nicht weniger als das Überleben ihrer Familien, ihres Stammes, ihres ganzen Volkes.
    Erneut ging ein Pfeilgewitter auf den Hof nieder und forderte Opfer. Nichtsdestotrotz mussten auch Rowan und seine Gefährten die Deckung verlassen, wenn sie das schützende Innere der Burg erreichen wollten.
    »Kommt!«, rief er ihnen zu, und ohne dass er zu sagen vermocht hätte, warum er es tat oder woher er den Mut dazu nahm, übernahm er die Führung.
    Mit der einen Hand packte er Bruder Cuthbert und zog ihn mit sich. Den anderen Arm breitete er schützend über Cassandra, die noch völlig unter dem Schock der Ereignisse stand. Die beiden Männer, die – allen Lügen und Täuschungen zum Trotz – auf die ein oder andere Weise ihre Ziehväter gewesen waren, waren tot, einer von ihnen durch ihre eigene Hand. Rowan glaubte zu
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