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Das Vermächtnis von Erdsee

Das Vermächtnis von Erdsee

Titel: Das Vermächtnis von Erdsee
Autoren: Ursula K. Leguin
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für die Magie, und im Verborgenen teilten sie miteinander, was sie an Überlieferung und Kunst besaßen. »Eine Begabung ohne Ausbildung ist wie ein Schiff ohne Steuermann«, sagten sie zu Otter und brachten ihm alles bei, was sie wussten. Das war nicht viel, doch es waren einige Ansätze zur großen Kunst dabei; und obwohl es ihm unangenehm war, seine Eltern zu hintergehen, setzte er diesem Wissen sowie der Freundlichkeit und dem Lob seiner bescheidenen Lehrer keinen Widerstand entgegen. »Es wird dir kein Leid geschehen, wenn du das Wissen nicht einsetzt, um Leid zuzufügen«, sagten sie zu ihm, und es fiel ihm leicht, ihnen dies zu versprechen.
    Am Fluss Serrenen, der westlich an den Stadtmauern vorüberfließt, gab die Hebamme Otter seinen wahren Namen, unter dem man sich auf den Inseln fern von Havnor an ihn erinnert.
    Unter diesen Leuten war ein alter Mann, den sie unter sich den >Wandler< nannten. Er zeigte Otter einige Zaubertricks, und als der Junge um die sechzehn war, nahm der alte Mann ihn mit hinaus auf die Felder beim Serrenen, um ihm den einen echten Verwandlungszauber zu zeigen, den er beherrschte. »Zuerst lass sehen, wie du diesen Strauch scheinbar in einen Baum verwandelst«, sagte er und prompt tat Otter das. Täuschung fiel dem Jungen so leicht, dass der alte Mann beunruhigt stutzte. Otter musste ihn flehentlich bitten, dass er ihn weiter unterrichtete, und er musste ihm zuletzt bei seinem eigenen wahren und geheimen Namen schwören, dass er den großen Zauber des Wandlers, wenn er ihn gelernt hatte, niemals verwenden würde, es sei denn, um Leben zu retten, das eigene oder das anderer. Dann zeigte der alte Mann ihm den Verwandlungszauber. Ziemlich sinnlos, dachte Otter, da er ihn geheim halten musste.
    Was er durch die Arbeit mit seinem Vater und seinem Onkel auf der Schiffswerft lernte, konnte er wenigstens anwenden; und er war dabei, ein guter Handwerker zu werden, das musste sogar der Vater zugeben.
    Losen, ein Pirat, der sich selbst König des Innenmeers nannte, war damals oberster Kriegsherr der Stadt und des ganzen Gebiets südlich und östlich von Havnor. Er trieb aus diesen reichen Pfründen Steuern ein und verwendete sie dazu, sein Heer und seine Flotte zu vergrößern, die er dann aussandte, um Sklaven zu machen und andere Länder zu plündern. Er verschaffte den Schiffsbauern Arbeit, wie Otters Onkel sagte. Sie waren dankbar dafür, Arbeit zu haben, in einer Zeit, da Männer auf der Suche nach Arbeit nur betteln konnten und sich in den Gemächern Maharions die Ratten tummelten. Sie verrichteten ehrliche Arbeit, sagte Otters Vater, und wozu diese Arbeit dienen mochte, ging sie nichts an.
    Doch durch den anderen Unterricht, den er empfangen hatte, war Otter in diesen Dingen hellhörig, sein Gewissen empfindlich geworden. Die große Galeere, die sie gerade bauten, würde von Losens Sklaven in den Krieg gerudert werden und Sklaven als Ladung zurückbringen. Es ärgerte ihn, an den schlechten Gebrauch zu denken, der von diesem guten Schiff gemacht werden würde. »Warum können wir nicht Fischerboote bauen, so, wie wir das bisher gemacht haben?«, fragte er und sein Vater antwortete: »Weil uns die Fischer nicht bezahlen können.«
    »Sie können uns nicht so gut bezahlen wie Losen. Aber leben könnten wir davon«, gab Otter zu bedenken.
    »Du meinst, ich kann mich über den Befehl des Königs hinwegsetzen? Willst du mich auf der Sklavenbank die Galeere rudern sehen, die wir gerade bauen? Gebrauch deinen Kopf, Junge!«
    So arbeitete Otter mit ihnen zusammen, mit klarem Kopf und wütendem Herzen. Sie saßen in einer Falle. Wozu ist die magische Begabung gut, dachte er, wenn nicht dazu, aus einer Falle den Ausweg zu finden?
    Sein Gewissen als Handwerker gestattete ihm nicht, die Schreinerarbeiten an dem Schiff in irgendeiner Weise nachlässig oder vorsätzlich fehlerhaft auszuführen; doch sein Gewissen als Zauberer sagte ihm, dass er es mit einem Bann belegen konnte, einem Fluch, der unmittelbar in die Ruder und den Rumpf eingesenkt war. Sicher hieß das doch, die Kunst zu einem guten Zweck zu verwenden. Zum Schaden, sicher, aber zum Schaden nur für die Schädlichen. Mit seinen Lehrern konnte er nicht darüber sprechen. Wenn er etwas falsch machte, dann wäre es nicht ihr Fehler, und sie wüssten nichts davon. Er dachte lange darüber nach, überlegte, wie er es anstellen sollte, und webte den Zauber sehr sorgfältig. Es war das Gegenteil eines Findezaubers: ein Verlustzauber, so nannte
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