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Das Vermächtnis von Erdsee

Das Vermächtnis von Erdsee

Titel: Das Vermächtnis von Erdsee
Autoren: Ursula K. Leguin
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Türmen über der Bucht: Auf dem höchsten Turm fängt das Schwert von Erreth-Akbe das erste und das letzte Tageslicht ein. Durch diese Stadt geht der gesamte Handelsverkehr, und alle Geschäfte, alles Lernen und alle Kunst der Erdsee konzentrieren sich hier, ein unermesslicher Reichtum. Hier regiert der König, der wiedergekehrt ist, als der Ring wieder zusammengefügt war, zum Zeichen des Heils. Und in dieser Stadt, in diesen späten Tagen sprechen die Männer und Frauen von den Inseln mit Drachen, zum Zeichen der Verwandlung.
    Doch Havnor ist auch die Große Insel, ein weites und reiches Land; und in den Dörfern landeinwärts vom Hafen, auf dem Ackerland an den Hängen des Berges Onn ändert sich kaum je etwas. Ein Lied, wert gesungen zu werden, wird dort auch heute noch gesungen. Dort sprechen alte Männer in den Schenken von Morred, als hätten sie ihn gekannt, in ihrer Jugend, als sie selbst auch Helden waren. Dort erzählen sich die Mädchen, wenn sie die Kühe von der Weide heimwärts treiben, von den Frauen von der Hand, die überall sonst auf der Welt in Vergessenheit geraten sind, sogar auf Rok, an die man sich aber hier erinnert, auf diesen stillen, sonnenbeschienenen Straßen und Feldern und in den Küchen am Herd, wo Hausfrauen wirken und reden.
    Zur Zeit der Könige kamen am Hof von Enlad und später am Hof von Havnor Magier zusammen, die den König berieten und untereinander Rat hielten, und sie setzten ihre Kunst für Ziele ein, die sie einhellig für gut befanden. In den finsteren Tagen jedoch verkauften die Magier ihre Fähigkeiten dem Meistbietenden und richteten ihre Kräfte in Duellen und Zauberkämpfen gegen-einander, unbekümmert um das Unheil, das sie damit anrichteten, oder schlimmer noch als unbekümmert. Seuchen und Hungersnöte, das Versiegen von Quellen, Sommer ohne Regen und Jahre ohne Sommer, die Geburt von kränklichen und missgebildeten Schafen und Kälbern, die Geburt von kränklichen und missgebildeten Kindern bei den Inselbewohnern - all das wurde nun dem Wirken von Magiern und Hexen zur Last gelegt, und dies nur allzu oft zu Recht.
    So wurde die Ausübung von Magie und Zauberei eine gefährliche Angelegenheit, es sei denn, man stand unter dem Schutz eines mächtigen Kriegsherrn; doch selbst dann war es lebensgefährlich, wenn man auf einen Zauberer traf, dessen Macht größer war als die eigene. Und gab einer sich vor dem gemeinen Volk als Zauberer zu erkennen, versuchten die Leute ihn auch zu vernichten, wenn sie konnten, da sie in ihm die Quelle der schlimmsten Übel erblickten, unter denen sie zu leiden hatten, eine Kreatur des Bösen. In jenen Jahren war in den Vorstellungen der Leute alle Magie schwarz.
    Damals gerieten Dorfzauberei und vor allem die Hexerei der Frauen in jenen üblen Ruf, der ihnen seither anhaftet. Hexen bezahlten teuer für die Ausübung einer Kunst, die sie für ihre eigene hielten. Die Sorge für trächtiges Vieh und schwangere Frauen, Geburtshilfe, die Weitergabe von Liedern und Riten, Fruchtbarkeit und Aufteilung von Feldern und Gärten, das Bauen und Hüten von Häusern und ihrer Einrichtung, die Gewinnung von Erzen und Metallen, all das hatte seit jeher in Händen der Frauen gelegen. Ein umfangreicher Schatz an überlieferten Zauberformeln und Sprüchen, die die gedeihliche Entwicklung diese Dinge sicherten, war gemeinsames Wissen der Hexen. Doch wenn bei einer Geburt oder auf den Feldern etwas missglückte, dann war die Hexe schuld. Und die Dinge missglückten öfter, als sie gelangen, da die Zauberer miteinander verfeindet waren, leichtsinnig Gifte und Flüche einsetzten, um einen unmittelbaren Vorteil über den anderen zu gewinnen, ohne an die Folgen zu denken. Sie brachten Dürre und Unwetter, Seuchen, Feuersnöte und Krankheiten über das Land und die Dorfhexe wurde dafür bestraft. Sie wusste nicht, warum ihr Heilzauber die Wunde brandig gemacht hatte, warum das Kind, das sie auf die Welt brachte, blödsinnig war, warum ihr Segen die Saat in der Furche zu verbrennen schien und den Apfel am Baum verfaulen ließ. Doch irgendjemand musste für diese Übel verantwortlich sein, und die Hexe oder der Dorfzauberer waren greifbar, gleich da, im Dorf oder in der Stadt, nicht weit weg in einem von bewaffneten Männern und Abwehrzaubern geschützten Schloss oder einer Festung des Kriegsherrn. Hexen und Zauberer wurden in vergifteten Brunnen ertränkt, auf den verdorrten Feldern verbrannt oder lebendig begraben, um die tote Erde wieder fruchtbar zu
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