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Das Vermächtnis von Erdsee

Das Vermächtnis von Erdsee

Titel: Das Vermächtnis von Erdsee
Autoren: Ursula K. Leguin
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machen.
    So war die Ausübung ihres überlieferten Wissens und dessen Weitergabe gefährlich geworden. Wer es wagte, war meist ohnehin schon ausgestoßen, Krüppel, Irre, ohne Familie, Alte - Männer und Frauen, die wenig zu verlieren hatten. Der weise Mann und die weise Frau, denen man einst mit Vertrauen und Ehrfurcht begeg nete, wurden ersetzt durch den schlurfenden, ohnmächtigen Dorfzauberer mit seinen Zaubertricks und die Hexe mit ihren Tränken zur Förderung von Lust, Eifersucht und Bosheit. Und die Begabung eines Kindes für Magie hielt man furchtsam verborgen.
    Diese Geschichte stammt aus jenen Zeiten. Einiges darin ist dem Buch der Finsternis entnommen, und einiges kommt aus Havnor, von den Weilern zum Berg Onn hinauf und aus den Wäldern von Faliern. Eine Geschichte kann aus solchen Scherben und Fragmenten zusammengesetzt sein, leicht wie ein Federbett, halb nach dem Hörensagen gemacht, halb erraten, kann dabei aber doch sehr wahr sein. Es ist eine Geschichte von der Gründung von Rok, und wenn die Meister von Rok sagen, so sei es nicht gewesen, dann sollen sie uns doch erzählen, wie es wirklich gewesen ist. Denn die Zeiten, in denen Rok überhaupt erst die Insel der Weisen wurde, liegt in Nebel gehüllt, und es ist durchaus möglich, dass diesen Nebel weise Männer gewirkt haben.

2.Otter
     
    Da war ein Otter in unserm Bach,
    schlüpfte in jede Gestalt,
    wirkte jeden Zauber der Magie,
    sprach die Sprache von Mensch und Vieh.
    So läuft das Wasser fort und fort,
    so läuft das Wasser fort.
     
    Otter war der Sohn eines Bootsbauers, der auf der Werft in Havnor-Großhafen arbeitete. Seine Mutter gab ihm seinen gewöhnlichen Namen; sie war ein Bauernmädchen aus dem Dorf Endweg im Nordwesten hinter dem Berg Onn. Sie war auf der Suche nach Arbeit in die Stadt gekommen, wie so viele. Redliche Leute in einem redlichen Handwerk in schweren Zeiten, waren der Bootsbauer und seine Familie vor allem darauf bedacht, nicht aufzufallen, um keinen Ärger zu bekommen. Als sich herausstellte, dass der Junge eine Begabung für Magie besaß, versuchte sein Vater daher, ihm diese mit Schlägen auszutreiben.
    »Ebenso gut könntest du eine Wolke dafür schlagen, dass es regnet«, sagte Otters Mutter.
    »Pass auf, dass du nichts Schlimmes in ihn hineinprügelst«, sagte seine Tante.
    »Pass auf, dass der Junge den Gürtel nicht eines Tages mit einem Fluch gegen dich wendet«, sagte sein Onkel.
    Doch der Junge begehrte nicht gegen den Vater auf. Er nahm die Schläge schweigend hin und lernte, seine Begabung zu verbergen.
    Sie schien ihm nichts Besonderes zu sein. Es war so leicht für ihn, in einem dunklen Raum einen silbrigen Schein hervorzubringen oder eine verlorene Nadel zu finden, einfach dadurch, dass er sie sich vorstellte, oder ein verzogenes Scharnier einzurichten, indem er mit den Händen über das Holz strich und ihm gut zuredete, dass er nicht begriff, warum die anderen davon ein solches Aufhebens machten. Aber sein Vater war wütend auf ihn und seine >Abkürzungen<, schlug ihm sogar einmal auf den Mund, als er mit seinem Werkstück redete, und ließ ihn sein Schreinerhandwerk mit Werkzeugen verrichten, und schweigend. Seine Mutter versuchte zu erklären. »Es ist, als ob du ein großes Juwel gefunden hättest«, sagte sie. »Und was kann einer von uns schon mit einem Diamanten anfangen, es sei denn, ihn zu verstecken? Jeder, der reich genug ist, ihn zu kaufen, ist stark genug, dich dafür umzubringen. Verberge ihn. Und halt dich fern von großen Leuten und ihren schlauen Männern!«
    >Schlaue Männer<, das war damals die Bezeichnung für Zauberer.
    Eine Besonderheit der Macht ist ihre Fähigkeit, dass sie Macht erkennt. Ein Magier erkennt den anderen, es sei denn, er verstellt sich sehr geschickt. Und der Junge hatte überhaupt keine Geschicklichkeit außer im Bootsbau, darin aber war er schon mit zwölf ein viel versprechender Lehrling. Um diese Zeit kam die Hebamme vorbei, die der Mutter bei seiner Entbindung geholfen hatte, und sagte zu seinen Eltern: »Lasst Otter am Abend nach der Arbeit zu mir kommen. Er sollte die Lieder lernen und auf seinen Namenstag vorbereitet werden.«
    Das war in Ordnung so, sie hatte das auch schon mit Otters älterer Schwester getan, und so schickten ihn die Eltern an den Abenden zu der Hebamme. Doch die brachte Otter mehr bei als das Schöpfungslied. Sie und ein paar Männer und Frauen ohne jede Bedeutung, ja, einige sogar mit zweifelhaftem Ruf, hatten alle eine gewisse Begabung
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