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Das Vermächtnis der Montignacs

Das Vermächtnis der Montignacs

Titel: Das Vermächtnis der Montignacs
Autoren: John Boyne
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etwas ganz und gar Absurdes vernommen, doch dann schaute er sie wieder an, sah ihr direkt in die Augen und nahm nichts anderes mehr wahr. Der brennende Schmerz zweier Jahrzehnte schoss durch seinen Körper; er dachte an das Leid seiner Eltern und ihren sinnlosen Tod. Ausgelöst von Stellas Familie.
    Â»Er war für dich nicht gut genug«, sagte er. »Du hast mich gebraucht, nicht ihn.«
    Stella wurde leichenblass, rang nach Luft, glaubte, sich übergeben zu müssen, und begann am ganzen Leib zu zittern.
    Â»Du warst es«, flüsterte sie. »Kein anderer als du. Du hast den Mord Gareth Bentley in die Schuhe geschoben. Ich hätte es mir denken sollen.«
    Â»Aber zuletzt habe ich ihn gerettet, oder? Und jetzt ist es vorbei, Stella«, ergänzte er eindringlich, wenngleich er mittlerweile ahnte, dass seine Worte auf taube Ohren stießen. In nur wenigen Minuten war die Arbeit seines Lebens vernichtet worden, und es gab keinen Weg mehr, irgendetwas davon zu retten. Deshalb blieb ihm nur noch eines, eine letzte Chance, die er ihr geben wollte. »Wir können zusammen sein, so wie wir es immer vorhatten. Die Entscheidung liegt bei dir.«
    Sie betrachtete ihn kopfschüttelnd. »Als ich damals nach Genf ging«, sagte sie mit klarer Stimme, »habe ich einige Monate lang wegen dir geweint. Nach einem halben Jahr habe ich einen anderen kennengelernt, der für kurze Zeit Teil meines Lebens war. Er war nichts Besonderes, aber doch jemand, bei dem ich dich vollständig vergessen habe. Seitdem habe ich dir keinen zweiten Gedanken mehr geschenkt. Du hast mir nichts mehr bedeutet. Und auch jetzt bedeutest du mir nicht das Geringste.«
    Montignac neigte den Kopf zur Seite und dachte über ihre Worte nach. Du hast mir nichts mehr bedeutet . Er überlegte, ob es in den letzten zehn Jahren einen Tag gegeben hatte, an dem er nicht mit ihrem Gesicht vor seinem inneren Auge wach geworden war oder an dem er jemals eingeschlafen war, ohne sich vorzustellen, sie läge an seiner Seite. Ob in dieser Zeit eine Stunde verstrichen war, in der er sich nicht gefragt hatte, wo sie gerade war, was sie tat und mit wem sie zusammen war. Er dachte an die zahllosen Briefe, die er ihr geschrieben hatte, die Zehntausende von Wörtern auf den Seiten, die er zusammengeknüllt in den Papierkorb geworfen und nie abgeschickt hatte, und an die vergeudeten Gefühle.
    Â»Nichts?«, fragte er ungläubig. »Nicht das Geringste?«
    Â»Weniger als das«, antwortete sie und schnipste mit den Fingern.
    Er nickte bedächtig, in Gedanken noch bei dem verschwendeten Leben, dem Jahrzehnt, das er vergebens geopfert hatte. Wie so oft, als sie beide noch Kinder waren, sprang er auf sie zu, laut aufstampfend und doch vollkommen im Gleichgewicht. Sie schrie auf und wich zurück, verfing sich mit dem Fuß in einer Schlinge des Gartenschlauchs auf dem Boden, taumelte nach hinten und stürzte rücklings über die Brüstung in die Tiefe – hatte einen Moment noch vor ihm gestanden und war im nächsten verschwunden. Er beugte sich über die Brüstung und schaute hinunter, wo sie auf dem Steinboden lag wie eine zerbrochene Puppe, mit verdrehten Armen und Beinen. Er fand es angemessen, dass die Erbin von Peter Montignac auf dem Grund und Boden von Leyville gestorben war.
    Seinem Grund und Boden.

10
    Später am Abend fand Margaret Richmond die Tote am Fuße des Westflügels des Hauses. Nach mehreren Versuchen erreichte sie schließlich Owen Montignac in London, berichtete ihm, was vorgefallen war, und bat ihn, umgehend nach Leyville zu kommen. Als er eintraf, hatte die Polizei mit ihrer ersten Untersuchung des Falls begonnen, die wenige Tage später abgeschlossen war. Da hatte man in der obersten Schublade von Peter Montignacs Schreibtisch die Nachricht entdeckt, die Stella hinterlassen hatte:
    Ein Leben ohne Raymond ist zu schmerzhaft.
    Margaret brach beim Anblick der Zeilen in Tränen aus, bestätigte jedoch, dass es sich dabei zweifellos um Stellas Handschrift handelte. Allerdings schien niemand so überwältigt zu sein wie Montignac, dem der Polizist, der ihm die Seite zeigte, zu einem Sessel helfen musste. Als Montignac saß, schlug er die Hände vor sein Gesicht, und sein Körper bebte so sehr, dass die anwesenden Gendarmen zunächst nicht wussten, ob er lachte oder weinte.
    Das Begräbnis verlief stiller als das von Peter Montignac vor etlichen Monaten.
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