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Das Vamperl

Das Vamperl

Titel: Das Vamperl
Autoren: Renate Welsh
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floss friedlich wie ein Bach durch die Wiese. Der Polizist musstenicht einmal die Kreuzung sperren um die Schulkinder hinüberzulassen. Die Autofahrer hielten von selbst an. So schien es wenigstens
     dem Polizisten. Er wusste ja nicht, dass Vamperl dafür sorgte.
    Frau Lizzi stand am Fenster und sah zu. Sie musste immer noch nach Luft schnappen, sooft er zustach.
    Wenn er dann zurückkam und sah, wie sie sich sorgte, guckte er schuldbewusst. Er legte den Kopf zur Seite und schmiegte sich
     in ihre Halsgrube.
    Aber beim nächsten Hupen war er wieder weg. Er zwängte sich durch die engsten Ritzen.
    Langsam begann Frau Lizzi einzusehen, dass sie ihn nicht festhalten konnte. Sie schimpfte immer noch ein wenig, sooft er zurückkam.
     Schon ganz aus Gewohnheit. Gleichzeitig war sie stolz auf ihn.
    Jeden Abend sang sie ihm das Lied vor, das sie sich für ihn ausgedacht hatte:
    »Morgens schon in aller Frühe
    wird mein Vamperl munter.
    Flitzt wie ein geölter Blitz auf die Straße runter.
    Wo die Leute schimpfen, streiten
    wegen lauter Kleinigkeiten,
    wo sie raufen, fluchen, schrein,
    dort mischt sich mein Vamperl ein.
    Mein Vamperl trinkt nur Milch und mag kein Blut
    und macht die bösen Leute alle wieder gut.
    Wenn die Autofahrer rasen und die Leute wie die Hasen
    jagen auf den Zebrastreifen, wenn sie miteinander keifen
    und sich an die Stirnen greifen,
    wenn man ringsum gellend hört
    schaurig laut ein Hupkonzert,
    wenn jeder tobt und brüllt, was er kann –
    dann flattert heimlich mein Vamperl heran,
    saugt ihm ein bisschen Gift aus der Gall’–
    erledigt der Fall!
    Da seht, wie es geht:
    Die Streithähne fahren ganz friedlich weiter,
    lachen und winken und grüßen sich heiter
    und werden freundlich und wissen nicht wie
    und sind zueinander nett wie noch nie.
    Mein Vamperl trinkt nur Milch und mag kein Blut
    und macht die bösen Leute alle wieder gut.«
    Vamperl schlief erst ein, wenn sie das Lied fertig gesungen hatte. Dann stand sie noch eine Weile neben seinem Korb und sah
     ihn an. Sie streichelte seinenhaarigen Kopf und seine haarigen Hände. Dann deckte sie ihn zu.

    An einem sonnigen Nachmittag saß Vamperl friedlich neben Frau Lizzi vor dem offenen Fenster. Sooft jemand heraufguckte, versteckte
     er sich hinter ihren dicken Armen.
    »Was ist denn das für ein Finsterling?«, fragte Frau Lizzi und zeigte auf einen Mann, der die Straße hinauf- und hinabspähte,
     bevor er in das Haus gegenüber schlich.
    »Der führt nichts Gutes im Schilde, das sage ich dir.«
    Sie schlug sich mit der Hand auf den Mund. Das hätte ich nicht sagen dürfen, dachte sie. Aber es war schon viel zu spät. Vamperl
     hatte sich aus dem Fenster gestürzt, war über die Straße geflattert und im Haus gegenüber verschwunden.
    Frau Lizzi holte den Operngucker und hielt Wache.
    Vamperl fand den fremden Mann im dritten Stock des Hauses gegenüber. Der Mann sperrte eben mit einem Nachschlüssel eine Wohnungstür
     auf. Vamperl wusste nicht, dass das ein Nachschlüssel war. Aber er roch das Gift in der Galle des fremden Mannes.
    Er stach zu und fing an zu saugen.
    Der Mann aber erwischte ihn am Flügel, noch bevor Vamperl genügend Gift herausgesaugt hatte. Mit letzter Kraft nahm er noch
     einen tiefen Schluck, dann musste er loslassen. Er kollertedie Treppe hinunter. Sein Flügel war eingerissen. Er schleppte sich zur Haustür. Auf der Stufe vor dem Haus fiel er um.
    Frau Lizzi sah ihn fallen. Sie rannte hinunter. So schnell war sie seit Jahren nicht mehr gerannt.
    Trotzdem kam sie hier fast zu spät. Denn Bello schnupperte schon an Vamperl und stieß ihn mit seiner Hundenase hin und her.
    »Weg da!«, schrie Frau Lizzi.
    Bello knurrte und schnappte nach Vamperl.
    Frau Lizzi drängte Bello zur Seite, hob Vamperl auf und trug ihn nach Hause. Er rührte sich nicht.
    Sie setzte sich in die Küche und hielt den kleinen Vampir im Schoß. Tränen rannen ihr über die Wangen. Eine fiel dem kleinen
     Vampir auf die Schnauze. Er zuckte, dann schleckte er die Träne ab. »Du lebst ja!«, rief Frau Lizzi. »Du lebst ja!«
    Mit zittrigen Fingern untersuchte sie seinen Flügel. Als sie die Bruchstelle entdeckte, weinte sie wieder. Dann holte sie
     Zahnstocher und Leukoplast.
    »Das wird dir gar nicht passen«, sagte sie. »Aber es muss sein. Du willst ja wieder fliegen können.«
    Sie füllte einen Fingerhut voll Rum. »Trink das. Dann tut es nicht so weh, wenn ich dir den Flügel einrichte.«
    Vamperl schüttelte sich, aber er trank.
    Frau Lizzi
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