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Das Vamperl

Das Vamperl

Titel: Das Vamperl
Autoren: Renate Welsh
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schiente den Flügel mit fünf Zahnstochern und klebte sie mit Leukoplast fest.
    Frau Lizzi konnte nicht wissen, was inzwischen im Haus gegenüber geschah. Der Mann, den sie gesehen hatte, stand in der fremden
     Wohnung und wusste nicht mehr, warum er hierher gekommen war.
    Die Wohnung gehörte einer alten Frau. Die alte Frau rief aus dem Schlafzimmer: »Ist da jemand?«
    »Ja, ich«, antwortete er ohne zu denken.
    »Und was wollen Sie hier?«, fragte die alte Frau.
    »Also, eigentlich wollte ich Ihr Geld«, sagte er. »Oder Ihren Schmuck. Aber jetzt habe ich keine Lust mehr, Sie zu bestehlen.
     Ich weiß gar nicht, wieso.«
    »Sie sind ja ein Dieb«, sagte die alte Frau. »Sie sollten sich schämen.«
    »Ich habe mich so lange nicht mehr geschämt, ich weiß nicht, ob ich das noch kann«, sagte er. »Aber ich werde es versuchen«.
    »Wissen Sie was«, sagte die alte Frau, »wenn Sie schon da sind, könnten Siefür mich einkaufen gehen. Ich liege seit einer Woche im Bett, mein Kühlschrank ist leer und ich habe Hunger.«

    Der Dieb ging für die alte Frau einkaufen. Er trug den vollen Mülleimer hinunter. Er fuhr sogar mit dem Staubsauger durch
     die Wohnung. Dabei schüttelte er die ganze Zeit den Kopf. Er kannte sich selbst nicht mehr.
    Später aßen der Dieb und die alte Frau miteinander zu Abend.
    Die alte Frau fragte: »Was verdient man denn so in Ihrem Beruf?«
    »Die Zeiten sind schlecht«, sagte er. »Besonders, wenn man allein arbeitet. Mit meinem Dietrich komme ich an die modernen
     Sicherheitsschlösser nicht heran. Und ich bin auch nicht mehr der Jüngste.«
    Die alte Frau nickte. Sie lobte seine Hühnersuppe.
    Später machte sie ihm einen Vorschlag: »Kommen Sie doch jeden Tag zu mir.Viel kann ich Ihnen nicht zahlen, weil ich nicht viel habe. Es hätte sich für Sie gar nicht gelohnt, mich zu bestehlen, aber
     wenn Sie für mich kochen wollen, haben Sie Ihr Auskommen. Und Sie brauchen keine Angst vor der Polizei zu haben.«
    »Und Sie brauchen keine Angst vor Dieben zu haben«, sagte er und lachte. »Ich kenne die Brüder. Bei mir haben die keine Chance.«
    Wenn Frau Lizzi das alles gewusst hätte, wäre es ein Trost für sie gewesen. Besonders, wenn sie geahnt hätte, dass der Dieb
     die alte Frau gesund pflegen würde. Im nächsten Sommer werden die beiden sogar nach Venedig fahren. Weil die alte Frau einmal
     in einer Gondel sitzen will. Der ehemalige Dieb meint zwar, dass es in Venedig zu viele Tauben und zu viele Gauner gibt, die
     alte Frau besteht jedoch auf ihrem Wunsch. Aber bis zum nächsten Sommer ist es noch sehr weit.

Kamillentee und Langeweile
    Am Abend bekam Vamperl Fieber.
    Frau Lizzi legte ihm kalte Umschläge auf den heißen Kopf.
    Sie tauchte zwei Windeln in Essigwasser und wickelte sie um seine heißen Füße.
    Sie flößte ihm kühlen Kamillentee ein.
    Sie hielt seine heiße Hand.
    Sie beruhigte ihn, wenn er im Fieber zu strampeln begann.
    Sie schluckte ihre Tränen hinunter.
    Das Fieber stieg und stieg. Vamperl lag wimmernd mit geschlossenen Augen unter seiner bunten Decke. Hin und wieder riss er
     die Augen weit auf und zitterte.
    »Ich bin ja bei dir«, sagte Frau Lizzi, aber sie merkte, dass er sie nicht verstand.
    Nach Mitternacht sank das Fieber.

    Vamperl schlief ein.
    Frau Lizzi saß neben seinem Korb und passte auf.
    Vamperl schlief fast bis zum nächsten Mittag. Als er endlich aufwachte, hatte er kein Fieber mehr. Aber er war noch sehr schwach.
     Frau Lizzi musste ihn auf seine Kiste heben. Er fiepte kläglich, wenn sie für ein paar Minuten aus dem Zimmer ging.
     
    Vamperl erholte sich rasch, aber mit den Zahnstochern am Flügel konnte er sich nur schlecht bewegen.
    »Lieg doch still!«, sagte Frau Lizzi.
    Sie sagte es so regelmäßig, wie die Pendeluhr im Zimmer die Stunden schlug.
    Vamperl wurde missmutig.
    Sooft unten ein Auto hupte, zappelte er. Sooft Frau Müller im Treppenhaus schimpfte, quengelte er. Sooft er Hundegebell hörte,
     wurde er kribbelig.
    Es war eine schwierige Zeit für Frau Lizzi. Sie versuchte Vamperl zu unterhalten. Sie sang ihm vor, bis sie heiser war.
    Er wollte weder Mensch-ärgere-dich-nicht spielen noch Mühle noch Fang-den-Hut. Die Dominosteine trat er mit den Füßen um.
    »Jetzt reißt mir aber bald die Geduld«, sagte Frau Lizzi. »Alles was recht ist, aber wer ist schuld an deinem gebrochenen
     Flügel, du oder ich?«

    Da guckte Vamperl schuldbewusst und steckte seine spitze Schnauze in Frau Lizzis hohle Hand.
    Das versöhnte sie jedes
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