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Das Tibetprojekt

Titel: Das Tibetprojekt
Autoren: Tom Kahn
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dem Absoluten, dem Nichtsein.«
    »Wie dramatisch. Aber ich weiß nicht, ob ich Sie ganz verstehe, Herr Professor«, sagte Li Mai und berührte ihn wie beiläufig
     an seiner empfindlichsten Stelle.
    »Nun, so ist das leider mit der Philosophie«, sagte Decker und schloss für einen Moment lang die Augen.
    Sie ließ ihre Finger über die Statue gleiten und ging Richtung Flur. »Vielleicht könnten Sie mir das mal in der Praxis demonstrieren,
     Herr Professor?«, flüsterte Li Mai und öffnete ihre Haare.
    »Sie denken an ein Experiment im Dienste der Wissenschaft?«
    »Erkenntniserweiterung durch angewandte Philosophie, würde ich sagen.« Sie verschwand durch die Tür und Decker hörte, wie
     Seide auf den Boden fiel.
    »Klingt interessant«, sagte er und folgte ihr in sein Schlafzimmer   ...
     
    Mitten in der Nacht wachte er auf. Li Mai lag schlafend neben ihm. Durch die Fenster sah Decker in die Sterne.
    Er stand leise auf und schlenderte durch die Zimmer.
    Die Statue.
    Er betrachtete sie genau. Im Mondlicht schien sie fast lebendig zu werden. Sie enthielt all das, was er in seiner Talkshow
     über den Menschen gesagt hatte. Sexualität und Aggression. Eros und Thanatos. Die zwei elementaren Kräfte der menschlichen
     Psyche.
    Geschaffen aus Angst vor der Entfesselung der beiden Urgewalten. Angst vor der Aggression. Und Angst vor unkontrollierbarer
     Lust.
    |402| War der Wille des Menschen denn frei?
    Kann er über Gut und Böse entscheiden?
    Oder wird er von den Trieben gelenkt?
    Wollen wir überhaupt überleben?
    Die Buddhisten haben das Nirwana mit der Auslöschung aller Wünsche umschrieben. Das ist nach der Lehre des Buddhas das höchste
     Glück. Weil keine Reize, weder von innen noch von außen, die Seelenruhe mehr stören.
    Erlischt dann aber auch der Wunsch zu leben?
    Wir wurden aus toter Materie geschaffen. Und wir kehren dorthin zurück.
    Gibt es entgegen aller Vernunft eine übermächtige unbewusste Todessehnsucht? Eine Lust an der Vernichtung?
    Decker ließ die Talkshow noch mal Revue passieren und das Gespräch mit Li Mai über Massenpsychologie. Die alten Tibeter waren
     wohl zum gleichen Ergebnis gekommen. Ahnten die unbekannten Schöpfer dieser wundervollen Statue vielleicht, dass auch ihr
     Reich zum Untergang verdammt war? Welche zeitlose Grundwahrheit über das Drama Menschsein und die Tragödien der Geschichte
     steckte dann in diesem mystischen Yamantaka. Decker faltete die Hände und presste sie wie zum Gebet an die Lippen. Er konnte
     nicht anders, er sank auf die Knie.
     
    Tief bewegt ging Decker zurück ins Schlafzimmer und zu Li Mai. Er legte sich neben sie und grübelte.
    »Du schläfst nicht?«, fragte sie plötzlich.
    »Ich denke an die Statue. Ich glaube, ich kann nie wieder mit einer Frau schlafen, ohne an diese Mysterien zu denken.«
    |403| Li Mai setzte sich auf. Dabei rutschte ihr das Laken herunter. »Ich glaube, jetzt erzähl ich dir mal was über chinesische
     Philosophie.«
    »Du?« Decker sah im Mondschein auf ihre wohlgeformten Brüste.
    »Ja. Mir scheint, du hast da mit Yin und Yang noch nicht alle Aspekte berücksichtigt.«
    »Ach, tatsächlich?«
    »O ja. Du denkst zu viel nach. Du siehst die Dinge zu pessimistisch. Worum geht es denn bei alledem? Um die Harmonie von Körper
     und Geist. Es geht um Gesundheit, um ein langes Leben. Und in letzter Instanz um die Unsterblichkeit.«
    »Hast du Unsterblichkeit gesagt?« Ein Blitz durchfuhr Decker.
    »Ach, vergiss es.« Sie sah in durchdringend an. »Ihr Europäer hängt doch fest mit eurem Aristoteles und damit, dass etwas
     nur A oder B sein kann. In Asien können die Dinge A und B zugleich sein. Das macht es oft etwas einfacher. Tao ist die Kunst,
     die Gegensätze zu vereinen.« Sie fuhr sich durch ihre Haare, wodurch sich ihr Busen nach oben stellte. Decker sah es und nahm
     ihre Worte kaum wahr. »Und es geht in der chinesischen Philosophie darum, im Einklang mit sich und der Welt zu leben. Das
     umfasst auch das Gleichgewicht der Geschlechter. Da seid ihr im Westen ein bisschen rückständig.« Sie drehte sich weiter zu
     Decker, sodass ihr Laken ihre schlanken Hüften entblößte.
    »Erzähl mir mehr   ...«, hauchte er.
    »Nicht jetzt, nicht hier.« Sie schob ihre Hand an ihm herunter und streichelte ihn. Decker holte tief Luft. Dann sagte sie
     etwas auf Chinesisch.
    »Ich verstehe nicht.«
    |404| Sie sagte es noch einmal.
    »Zitierst du nun auch noch Konfuzius?«, fragte Decker und genoss ihre schamlosen
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