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Das Teufelsspiel

Das Teufelsspiel

Titel: Das Teufelsspiel
Autoren: Jeffery Deaver
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darauf tauchte er in der Menge unter, und niemand achtete mehr auf ihn.
    Während er an der Kreuzung Sechste Avenue und Dreiundfünfzigste Straße vor der roten Ampel wartete, überlegte er hin und her. Dann traf Thompson eine Entscheidung. Er zog den Regenmantel aus und legte ihn sich über den Arm, wobei er darauf achtete, dass seine Waffen zugänglich blieben. Danach machte er kehrt und schlug den Rückweg zum Museum ein.
    Thompson Boyd war ein Fachmann, der stets überaus korrekt vorging. Was er nun vorhatte – nämlich zum Schauplatz eines soeben erst fehlgeschlagenen Überfalls zurückzukehren –, mochte unklug erscheinen, da in Kürze zweifellos die Polizei dort eintreffen würde.
    Andererseits wusste er aus Erfahrung, dass die Anwesenheit der Polizei zu allgemeiner Sorglosigkeit verleitete. Oft kam man unter solchen Umständen wesentlich einfacher an jemanden heran. Der Durchschnittsmann schlenderte nun mit dem Passantenstrom unauffällig in Richtung des Museums zurück, ein ganz gewöhnlicher Berufspendler, ein Joe Jedermann auf dem Weg zur Arbeit.
     
    Es war ein echtes Wunder.
    Irgendwo im Gehirn oder im Körper trat ein mentaler oder physischer Reiz auf – ich will das Glas nehmen, ich muss die Pfanne loslassen, die mir die Finger verbrennt. Der Reiz löste einen Nervenimpuls aus, der sich entlang der Neuronen durch den Körper fortpflanzte. Dieser Impuls bestand nicht, wie die meisten Leute glaubten, aus einem konstanten elektrischen Strom, sondern ähnelte eher einer Kettenreaktion, die dadurch hervorgerufen wurde, dass die Oberfläche der jeweiligen Nervenzelle einen Moment lang von einer positiven auf eine negative Ladung wechselte. Die Stärke des Impulses war immer gleich – entweder es gab ihn oder es gab ihn nicht –, ebenso wie seine Geschwindigkeit, die etwa vierhundert Kilometer pro Stunde betrug.
    Sobald der Impuls an seinem Ziel eintraf – einem Muskel, einer Drüse oder einem Organ –, reagierte dieses darauf und ließ die Herzen schlagen, die Lungen atmen, die Körper tanzen, die Hände Blumen pflanzen, Liebesbriefe schreiben oder Raumschiffe steuern.
    Ein Wunder.
    Es sei denn, es ging etwas schief. Es sei denn, du warst der Leiter einer kriminaltechnischen Abteilung und untersuchtest gerade eine U-Bahn-Baustelle, die Schauplatz eines Mordes gewesen war. Dann fiel dir ein Stützbalken ins Genick und zertrümmerte es am vierten Halswirbel, also vier Knochen unterhalb der Schädelbasis. So wie es vor einigen Jahren Lincoln Rhyme ergangen war.
    Wenn so etwas passierte, konnte alles Mögliche daraus folgen.
    Auch falls der Schlag nicht direkt das Rückenmark durchtrennte, so traten dort gleichwohl Blutungen auf, deren Druck die Neuronen zerquetschte oder abschnürte. Die absterbenden Nervenzellen verschlimmerten den Schaden noch, indem sie bei ihrem Tod – aus unbekannten Gründen – eine toxische Aminosäure freisetzten, die weitere Neuronen tötete. Falls der Patient überlebte, bildete sich rund um die Nervenzellen letzten Endes Narbengewebe und hüllte sie ein wie Erde einen Sarg – eine passende Metapher, denn im Gegensatz zu den Neuronen im restlichen Körper konnten die Nervenzellen des Gehirns und des Rückenmarks sich nicht regenerieren. Sobald sie erst einmal abgestorben waren, blieben sie auf ewig funktionslos.
    Nach solch einem »katastrophalen Vorkommnis«, wie die Mediziner es dezent umschrieben, stellte sich bei manchen der Patienten nämlich bei denjenigen, die Glück gehabt hatten – heraus, dass die Neuronen, von denen lebenswichtige Funktionen wie Herzschlag und Atmung abhingen, weiterhin arbeiteten. Diese Patienten überlebten.
    Doch womöglich waren sie eher diejenigen, die Pech gehabt hatten.
    Manch einer von ihnen wäre lieber gleich gestorben und hätte dadurch keine Infektionen, wund gelegenen Stellen, Muskelverkürzungen und Krämpfe erleiden müssen. Auf diese Weise wäre ihm auch die ständige Gefahr einer autonomen Dysregulation erspart geblieben, die einen Schlaganfall nach sich ziehen konnte. Und er hätte die schaurigen wandernden Phantomschmerzen vermieden, die sich genau wie echte Schmerzen anfühlten, aber weder durch Aspirin noch Morphium gelindert werden konnten.
    Ganz zu schweigen von der grundlegenden Änderung der Lebensumstände: den Physiotherapeuten und Betreuern, den Beatmungsgeräten, Kathetern und Erwachsenenwindeln, der ständigen Abhängigkeit … und natürlich den Depressionen.
    Manche der Betroffenen gaben einfach auf und entschieden
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