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Das Teufelsspiel

Das Teufelsspiel

Titel: Das Teufelsspiel
Autoren: Jeffery Deaver
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… Eins
     
    Sein Gesicht ist nass von Schweiß und Tränen. Der Mann befindet sich auf der Flucht, er rennt um sein Leben.
    »Da! Da ist er!«
    Der einstige Sklave kann nicht genau ausmachen, woher die Stimme kommt. Von irgendwo hinter ihm? Von rechts oder links? Vom Dach eines der baufälligen Wohnhäuser, die beidseits der schmutzigen Kopfsteinpflastergassen aufragen?
    Die Juliluft ist heiß und zäh wie flüssiges Paraffin. Der schlanke Mann springt über einen Haufen Pferdemist. Kein Straßenkehrer kommt jemals in diesen Teil der Stadt. Neben einer Palette, auf der sich zahlreiche Fässer türmen, hält Charles Singleton inne und ringt nach Atem.
    Ein Pistolenschuss peitscht auf. Die Kugel geht fehl. Der laute Knall der Waffe lässt ihn unwillkürlich an den Krieg denken, an jene unfassbare, wahnwitzige Zeit, während der er in staubiger blauer Uniform mit einer schweren Muskete auf Männer in staubigem Grau gezielt hatte, deren Waffen wiederum auf ihn gerichtet gewesen waren.
    Er läuft nun schneller. Die Häscher feuern erneut. Auch diese Schüsse verfehlen ihn.
    »Haltet ihn! Fünf Dollar in Gold für seine Ergreifung!«
    Aber die wenigen Leute, die sich so früh am Morgen auf der Straße befinden – zumeist irische Lumpensammler und Tagelöhner, die mit ihren geschulterten Tragekörben oder Spitzhacken zur Arbeit stapfen –, verspüren kaum Lust, sich dem Neger in den Weg zu stellen, denn er ist von muskulöser Statur, und sein grimmiger Blick verrät wilde Entschlossenheit. Da die Belohnung zudem von einem Stadtpolizisten ausgelobt wurde, wird sie ohnehin nur ein leeres Versprechen sein.
    An der Farbenfabrik Ecke Dreiundzwanzigste Straße biegt Charles nach Westen ab, rutscht jedoch auf den glatten Pflastersteinen aus und stürzt schwer. Ein berittener Polizist trabt herbei, hebt den Schlagstock und nähert sich dem Gestrauchelten. Und dann …
    Und?, dachte das Mädchen.
    Und?
    Was ist dann mit ihm geschehen?
    Die sechzehnjährige Geneva Settle drehte noch einmal den Knauf des Lesegeräts, doch der Mikrofiche bewegte sich nicht weiter; sie hatte das Ende dieser Karte erreicht. Sie nahm den Metallrahmen heraus. Er enthielt die Titelseite einer Ausgabe der Coloreds’ Weekly Illustrated mit dem Datum 23. Juli 1868. Geneva blätterte die anderen Rahmen in dem verstaubten Kasten durch. Ihre Befürchtung wuchs, dass die übrigen Seiten des Artikels fehlten und sie daher niemals herausfinden würde, was aus ihrem Vorfahren Charles Singleton geworden war. Sie hatte gehört, dass die Geschichte der Schwarzen in den Archiven oft nur unvollständig dokumentiert war, sofern überhaupt noch Unterlagen existierten.
    Wo steckte bloß der Rest des Artikels?
    Ah … Sie wurde schließlich doch noch fündig und setzte den Rahmen behutsam in das abgenutzte graue Lesegerät ein. Dann drehte sie ungeduldig den Knauf, um die Fortsetzung der Geschichte von Charles’ Flucht auf den Bildschirm zu bekommen.
    Dank ihrer ausgeprägten Fantasie – geschult durch die unzähligen Bücher, die sie im Laufe der Jahre verschlungen hatte – war Geneva in der Lage gewesen, dem nüchternen Zeitungsbericht eine Fülle von Eindrücken abzugewinnen. Sie fühlte sich beinahe, als wäre sie zurück ins neunzehnte Jahrhundert gereist und würde höchstpersönlich an der Verfolgung des ehemaligen Sklaven durch die heißen, stinkenden Straßen New Yorks teilnehmen. In Wahrheit befand sie sich fast hundertvierzig Jahre später in einer menschenleeren Bibliothek, gelegen im vierten Stock des Museums für afroamerikanische Kultur und Geschichte an der Fünfundfünfzigsten Straße in Midtown Manhattan.
    Geneva drehte den Knauf und ließ die Seiten auf dem grobkörnigen Bildschirm an sich vorbeiziehen. Dann fand sie die Fortsetzung des Artikels, versehen mit der Überschrift:
     
    SCHANDE
    Bericht über das Verbrechen eines Freigelassenen
    Charles Singleton, ein Veteran des Kriegs
    zwischen den Staaten, begeht offenen Verrat
    an der Sache unseres Volkes
     
    Ein Foto zeigte den achtundzwanzigjährigen Charles Singleton in seiner Armeeuniform. Er war hochgewachsen, hatte große Hände. Die Uniformjacke spannte an Brust und Armen und ließ auf kräftige Muskeln schließen. Breite Lippen, hohe Wangenknochen, runder Kopf, ziemlich dunkle Haut.
    Das Mädchen betrachtete das ernste Antlitz, den ruhigen, durchdringenden Blick und glaubte eine gewisse Ähnlichkeit festzustellen – sie hatte den Kopf und das Gesicht ihres Vorfahren, die runde Physiognomie,
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