Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Spiel der Nachtigall

Das Spiel der Nachtigall

Titel: Das Spiel der Nachtigall
Autoren: Tanja Kinkel
Vom Netzwerk:
Herr«, rief Walter. Er kletterte eilig auf die Bank, damit ihn auch jeder sah, raffte sein Schullatein zusammen, samt all der Messlieder und Evangelientexte, an die er sich erinnerte, und radebrechte, so gut er es eben vermochte, in der Sprache der Römer: »Der Weihnachtstag naht! Friede auf Erden! Lasst uns singen und jubilieren! Schickt Boten zum Geldwechsel in die Stadt des Kaisers Augustus, die da heißt Wien, und derweilen wir warten auf die Ankunft des Boten, der kommt in Herrlichkeit, ich werde singen zur Vertreibung der Zeit und zum Lob des Herrn – und der Dame … der Herrin, bei der es war kein Platz in der Herberge!«
    Für einen bedrohlich langen Moment starrten alle ihn entgeistert an. Doch dann warf der Blaumantel den Kopf zurück und brach in schallendes Gelächter aus. Walther zwang sich, ruhig zu bleiben: Gelächter war besser als Schwerter. Die Fremden fielen in das Lachen ein, als seien sie es gewohnt, ihm alles nachzumachen. Sogar die Mönche an Walthers Tisch glucksten.
    Schließlich wischte sich der Mann die Lachtränen aus den Augen und sagte in einem Latein, das geschmeidig und beschwingt klang, wie es selbst der Dorfpfarrer zu Hause nie gesprochen hatte: »Wohlan, dann unterhaltet uns.«
    Er winkte der Wirtin zu, offensichtlich gewohnt, dass man seinen Wünschen sofort nachkam. Nun war nicht die Zeit, ihn zu belehren, dass auch er ein Herr war. Walther kletterte vom Tisch hinunter und flüsterte Markwart ins Ohr: »Hole Hilfe, es könnte hier zum Kampf kommen.«
    »Aber wen soll ich denn …?«, protestierte Markwart, während Walther sich den Weg durch den Schankraum zu dem Fremden bahnte, der inzwischen dem Mann mit dem Beutel und dem Priester, der ihre Sprache verstand, bedeutete, mit dem Geld loszuziehen, vermutlich um Münzen zu wechseln. War das alles nur ein Missverständnis gewesen? Hatte es nie eine gefährliche Situation gegeben? Nein, diese Möglichkeit wiesen Walthers Phantasie und Eitelkeit zurück. Außerdem ruhte der Blick der Wirtin auf ihm, und das gefiel ihm sehr. Als er vor ihr und dem Fremden stand, machte er eine schwungvolle Verbeugung: »Holde Herrin dieser gastlichen Stätte, wie hieß Euch Eure Mutter?«
    »Auf alle Fälle nannte sie mich nicht dumm«, gab sie unbeeindruckt zurück. »Wenn es hier zu einer Schlägerei kommt, weil du dein loses Maul gewetzt hast, mein Junge, dann musst du für mehr zahlen als für eine Schlafstätte, schreib dir das ruhig hinter die Ohren, bevor du weitersprichst.«
    Das fand Walther ein wenig ungerecht, zumal er gerade angefangen hatte, in der schönen Wirtin eine mögliche Lehrmeisterin für das zu sehen, was er vor seinem neuen Leben in Wien unbedingt noch kennenlernen musste. Doch er ließ sich nicht so leicht entmutigen.
    »Und Ihr, werter Herr?«, fragte er auf Latein. Der rotblonde Fremde, der sich inzwischen an einem Tisch niedergelassen hatte, der von den anderen Gästen hastig frei gemacht worden war, hob eine Augenbraue. Es wurde Walther bewusst, dass seine Worte an die Wirtin, da auf Deutsch, für den anderen unverständlich geblieben waren, was die Frage zusammenhangslos machte. »Nomen?«, setzte Walther also mit einem Lächeln hinterher, das der Fremde hoffentlich als freundlich erkannte.
    »Peregrinus«, gab der Mann zurück. Das war sowohl das lateinische Wort für Kreuzfahrer als auch für Fremder; wenn man ein falco dazu setzte, dann hieß es Wanderfalke. Ein Wortspiel also, keine Lüge, aber eine Wahrheit in Verkleidung; das gefiel ihm. Er machte sich daran, seine eigene zu weben.
    Sich in Liedern zu verlieren, war etwas, das Walther schon als Kind begeistert hatte, doch in den letzten Jahren war der Wunsch dazu gekommen, sie zu gestalten. Nicht nur derjenige zu sein, der vortrug, sondern derjenige, der die Worte schmiedete. Er hatte sich auch schon Verse zurechtgereimt, nur wusste er, dass ihnen jenes wunderbare Ebenmaß fehlte, das so manche Weise der großen Sänger zierte, die von den Höfen bis zu den Marktplätzen der Dörfer gedrungen waren. Deswegen brauchte er einen Meister, nicht irgendeinen, sondern den berühmtesten Sänger, von dem er gehört hatte: Reinmar, der am herzoglichen Hof zu Wien weilte. Deswegen war er hier. Nur würde bescheiden sein und zu erklären, alles, was er vortragen könne, seien ein paar unfertige Reime, ihm jetzt nichts nutzen. Ganz abgesehen davon, dass Peregrinus ein deutsches Lied ohnehin nicht verstehen würde, die Wirtin jedoch von einem lateinischen unbeeindruckt bleiben
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher