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Das spanische Medaillon

Das spanische Medaillon

Titel: Das spanische Medaillon
Autoren: Tom Wolf
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konnte nur die Mäuler der Familie und des engsten Staats stopfen. Das Menü war auch recht kärglich. Seien Sie also froh, dem entgangen zu sein! Bitte bleiben Sie für ein paar Tage in der Stadt. Ich habe Ihnen so viel zu berichten. Die liebe Luise wird unsere Botin sein. Liebste Freundin: Wir müssen eine Möglichkeit finden zu tanzen! Ich glaube, ich sterbe, wenn ich noch länger in diesem Hofgedusel eingesperrt und von den Freundinnen der Bewegung ferngehalten bleibe.«
    Es hätte dieser Ermahnung nicht bedurft – wir hatten ohnedies vor, bis in den Januar hinein im Stadthaus der Inn- und Knipphausens zu verweilen. Jérôme erwartete den alten Freund Robert de Gélieu, der die Raketenentwicklung in England maßgeblich vorangetrieben hatte und sich (unterm Deckmantel der tiefsten Verschwiegenheit) über die Fortschritte auf dem Festland informieren wollte. Jérôme erwartete freilich nichts anderes, als dass ihm von berufener Seite die richtigen letzten Hinweise gegeben würden, unsere noch immer sehr zufälligen Erfolge bei den Abschüssen zu dauerhaften und vorhersagbaren zu machen. Vorher würden wir dem König keine gute Vorstellung liefern können. An eine Royal Rocket Troop – eine eigene Armeeabteilung wie in England, welche großkalibrige Feststoffraketen als Schreckwaffe verschoss – war damals noch gar nicht zu denken.
    Wir wohnten in der Gästeetage in der Rossstraße 46, die zuletzt meinem Urgroßvater Honoré Langustier gehört hatte. Sie diente als Gästewohnung, die wir uns mit Evelyns Tochter Anna, ihrem Ehemann Hermann von Hartwig und ihrer damals sechsjährigen Tochter Philippa teilten. Diese kleine Person entzückte mich täglich mit neuen Späßen. Unsere spätere Freundschaft datiert von dieser ersten gemeinsamen Zeit! Anna, ihre Mutter, die vom Alter her auch meine Tochter hätte sein können, war von meiner Idee eines Vereins für Frauen begeistert und wünschte sich nichts mehr, als ebenfalls Mitglied zu werden. Als sie Luisens Brief sah, weiteten sich ihre Augen, dann strahlte sie übers ganze Gesicht und sagte:
    »Da hat ja schon die Königin für dich entschieden: Es wird ein Turnverein! Sie hat ihm sogar den Namen verliehen.«
    Ich las ungläubig, worauf Annas Finger deutete: Freundinnen der Bewegung! Für einen Augenblick war ich sprachlos, dann jauchzte ich erfreut. Der Einfall war ausgezeichnet.
    »Sie wird nicht Schirmherrin«, konstatierte ich, »nein: Sie wird Mitglied! Des ersten Frauenturnvereins!«

8
    Robert de Gélieu hatte im Amerikanischen Unabhängigkeitskrieg an der Seite Jérômes gekämpft. Ihrer beider Vaterstadt war Rouen an der Seine, wo die de Gélieus ein Gut besaßen, das für seine Enten berühmt war. Robert jedoch wollte sein Leben nicht als Entenhirt fristen. Schon als Junge hatte er großes Interesse an Wissenschaft und Technik gezeigt und besonders gern mit Schießpulver und allem, was brannte, gespielt. Leicht hätte er den älteren Jérôme kennenlernen können, der sich in derselben verschlafenen kleinen Stadt für Aeronautik begeisterte und seine ersten selbst gebauten Ballone auffahren ließ. Wohl hatte Jérôme von den oft bei de Gélieus ausbrechenden Bränden gehört, doch nichts Näheres erfahren. Begegnet war er Robert erst zufällig auf dem Kongress für optische Erfindungen in London 1802.
    »Stell dir einen schlanken, schlaksigen, schwarzhaarigen, blassen, ständig unruhigen jungen Mann vor und verdoppele die Nervosität an dem, den du vor dir siehst – dann hast du eine schwache Vorstellung von ihm«, sagte Jérôme. »Er ist so sensibel, dass du ihn mit einer Äußerung, die dir selbst als völlig harmlos, ja langweilig und unbedeutend erscheint, aufs Tödlichste verletzen, gegen dich aufbringen oder für immer verschrecken kannst! Er war einer der Ersten, die Frankreich verlassen haben, als es losging. Er hat einen untrüglichen Instinkt für die Gefahr. Auch im Krieg erträgt er die Nähe des Feindes kaum – wohl deshalb ist er auf die Idee der Raketenwaffe gekommen: Sie wirkt auch auf größte Distanz. Man kann den Gegner angreifen, auch wenn man noch nichts von ihm sieht.«
    Ich war sehr neugierig, die beiden nebeneinander zu erleben, denn es geschah nicht mehr sehr oft, dass Jérôme alte Freunde traf.
    »Wo ist er abgestiegen?«, fragte ich, als wir uns am Sonntag, dem 31. Dezember, auf den Weg machten.
    Robert de Gélieu war pünktlich angekommen, um am lautesten Abend des Jahres ganz unauffällig eine private Demonstration der
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