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Das Sonnenblumenfeld

Das Sonnenblumenfeld

Titel: Das Sonnenblumenfeld
Autoren: Andrej Longo
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schrie sie.
    Und sie stürzte erschrocken auf ihre Tochter zu, die sich über die Piazza schleppte.

Der folgende Tag
    Die Dunkelheit der Nacht hatte sich noch nicht entschlossen, die Bühne dem Tag zu überlassen. Sie zog durch die Gassen des Dorfes, vom Wein und der Musik schwirrte ihr noch der Kopf. Auf der Bühne schliefen zwei junge Leute in enger Umarmung. Eine schwangere Hündin, deren Zitzen schwer von Milch herunterhingen, suchte zwischen den Mülltonnen nach etwas Essbarem. Und das einzige Geräusch in der Nacht war der Besen des Straßenfegers, der über das Pflaster fuhr.
    Caterina hatte sich in einen unruhigen, wenig erholsamen Schlaf geflüchtet, gequält von den Schatten des Sonnenblumenfeldes. So war die ganze Nacht vergangen, ihre Mutter war bei ihr, tröstete sie und versuchte herauszufinden, was passiert war. Aber sie weinte nicht und sprach nicht über das, was geschehen war, und die wenigen Worte, die sie im Schlaf gemurmelt hatte, gaben nichts preis.
    Nur als sie auf der Piazza angekommen war, halb nackt, und sich von Angst und Schmerz gequält in die Arme der Mutter geworfen hatte, nur da hatte sie etwas gesagt: »Es ist meine Schuld.« Und hätte beinahe geweint.
    Es waren Tränen der Wut, nicht der Verzweiflung,
und sie trockneten, als sie Lorenzos Großvater auf der Bühne sah, der sie anschaute. Da löste sie sich aus den Armen der Mutter und versuchte einen Schritt in Richtung Bühne. Der Schuster verstand, dass das Mädchen ihm etwas sagen wollte, und ohne das Akkordeon abzustreifen, stieg er herab und ging ihr entgegen. Als er bei ihr war, flüsterte Caterina ihm etwas ins Ohr, den Mund mit der Hand verdeckend.
    Der Schuster streichelte sie. Dann ließ er das Akkordeon auf der Bühne liegen, entschuldigte sich bei den anderen Musikanten und ging in seine Werkstatt. Dort nahm er die Schlüssel des Lieferwagens, stieg ein und raste über die Landstraße zur Brücke.
    So verging die Nacht.
    Mit Kaffee anstelle von Essen, mit dem Schuster, der seinen Enkel im Sonnenblumenfeld fand und ins Krankenhaus brachte, mit Caterina, die schlief und jedes Mal, wenn sie aufwachte, nach Lorenzo fragte, mit Rita, die am Bett der Tochter saß, mit Lorenzo, der nach Caterina fragte, während sie ihm die Hand eingipsten und die Wunde nähten. Und mit Giovanni, der immer wieder sagte, dass genau so etwas passierte, wenn man die Wünsche der Eltern nicht respektierte.
    Jetzt war es fünf Uhr morgens.
    Die Dorfglocken schlugen die Stunde in der Dunkelheit, die ihres Weges ging. In der Stille, die sich aus
breitete, goss sich der Straßenfeger etwas Kaffee aus der Thermosflasche ein, die er bei sich trug. Und die schwangere Hündin schlich um ihn herum in der Hoffnung, dass er ihr etwas zu essen gab.
    Genau in diesem Moment, als sich Giovanni aufs Sofa legte und die Glocke den fünften Schlag schlug, klopfte es bei den Avagliani.
    »Wer kommt denn jetzt?«, fragte Rita.
    Und sie schaute ihre Tochter an, die sich im Schlaf wälzte, und dachte, die Carabinieri. Wie immer, dachte sie: Die am wenigsten Schuld haben, werden verantwortlich gemacht.
    Es klopfte noch einmal.
    »Giuvà, steh auf, es klopft!«
    »Wer ist das denn?«, fragte ihr Mann noch halb im Schlaf.
    »Weiß ich nicht. Sieh nach.«
    Er stand auf, schlüpfte in die Schuhe und öffnete, als es zum dritten Mal klopfte.
    Vor sich hatte er die elende Fresse von Mino Calasetta.
    »Guten Morgen«, sagte Calasetta.
    »Guten Morgen, Dottore«, antwortete Giovanni.
    Er war erstaunt, ihn um diese Uhrzeit zu sehen, denn der Tag roch noch nach Nacht.
    »Ist auf der Baustelle was passiert?«, fragte er unruhig.
    Dachte aber sofort, dass Calasetta sich nicht zu ihm
bequemt, sondern angerufen hätte, wenn es um die Arbeit ginge.
    »Lass mich rein«, sagte Calasetta, »ich muss mit dir reden.«
    Giovanni ließ ihn rein, und Calasetta ging ins Esszimmer.
    »Möchten Sie einen Kaffee?«, fragte Giovanni, nachdem er die Tür geschlossen hatte.
    »Ja, vielleicht«, sagte Calasetta, »mit einem Glas Wasser, die Hitze macht einen verrückt.«
    Giovanni ging in die Küche, um Kaffee zu kochen.
    Sogleich schaute Rita durch die andere Tür in die Küche.
    »Wer ist es?«
    »Calasetta.«
    »Calasetta?«
    »Ja.«
    »Und was will er?«, fragte seine Frau, ohne ihre Abscheu zu verbergen.
    »Keine Ahnung.«
    »Giuvà, den will ich nicht bei mir im Haus haben.«
    »Er sagt, er will reden.«
    »Dann redet im Garten.«
    »Mè, Rita, ich bitte dich«, sagte Giovanni gereizt. Sie
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