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Das singende Kind

Das singende Kind

Titel: Das singende Kind
Autoren: Carmen Korn
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sie im Kindergarten.
    Er zog sich den Mantel an. Viel zu früh. Es war erst halb fünf. Doch er wollte schon mal zu dem Platz gehen, an dem sich die Brüderchen und Schwesterchen trafen. Nur ein paar Jahre noch. Dann waren sie alle soweit und gaben herrliche Marzipankinder her.
    Trudi fuhr zum drittenmal an diesem Tag über die Hochbahnbrücke und guckte in den Himmel hinein, da, wo er auf der ganzen Strecke am weitesten war. Diesmal hatte er nur noch hinten am Horizont helle Streifen, und Trudi beugte sich vor, sie besser zu sehen, gerade als der Zug ins Schlingern kam. Sie lehnte ihren Körper gegen das Schlingern und genoß ihre Bewegungen, die ihr langsam und bewußt zu sein schienen. Sie lächelte den Mann an, der ihr gegenübersaß und einen knackenden Apfel aß.
    Trudi war den ganzen Tag gefahren. Über der Erde. Unter der Erde. Nur ausgestiegen, um in die nächste Bahn zu steigen. War einmal auf ein Klo gegangen und hatte im Chlorgeruch die letzte Bratwurst ausgezutzelt, die noch in der Tasche ihres Mantels gewesen war. Lustlos. Eine lästige Pflicht.
    Morgens hatte sie mit dem Zutzeln angefangen, kaum daß sie aus dem Badezimmer gekommen war. Sich zwischen den zerstörten Türen ihres Schrankes angezogen und gezutzelt. Das Mett in den Mund gesogen, als müsse sie es für alle Zeiten tilgen, um das Gute zu beschwören.
    Georgs Lippen, die irgendein Wort geformt hatten. Er war am Fenster gewesen, als sie das Haus verließ. Sie hatte noch auf der anderen Straßenseite gestanden. Wollte ihn sehen. Ihm einen Blick geben und nicht nur den ausgelutschten Darm der Bratwurst zurücklassen, der vor dem Schrank liegengeblieben war.
    Der Mann gegenüber aß den Apfel bis auf den Stiel. Er drehte ihn noch zwischen den Fingern, als er aufstand, und Trudi stand auch auf und stellte sich an die Tür. Stieg mit ihm aus.
    Sie ging hinter ihm her und blieb erst stehen, als sie das Kind kommen sah. Mit einer Laterne in der Hand, die noch nicht angezündet war. Der Mann hob das Kind hoch und schwenkte es umher.
    Trudi lief den beiden nach. Lief durch Straßen, die sie nicht kannte. Dann sah sie Monde und Sterne leuchten. Licht schimmern durch Fenster aus buntem Pergamentpapier. Trudi ging auf die Kinder zu, die ihre Laternen schwenkten. Sich sammelten, um einen langen Zug zu bilden. Trudi schloß sich ihnen an.
    Georg hielt den Hörer vom Ohr. Versuchte, sich das Gekrächze vom Körper zu halten. Sinn im Gesagten zu finden. Diebin. Ihre Frau ist zur Diebin geworden. Abgeführt. An der Seite eines Subjektes. Abgetakelte Alte mit gefärbten Haaren.
    Er erkannte die Stimme von Käthe Dux erst, als sie endlich den Namen genannt hatte. Pflicht. Meine Pflicht, Sie aufzuklären. Vor einer Kirche zur Diebin geworden. Kein Schamgefühl.
    Das Gekrächze kam ihm noch immer vor wie ein Verstellen der Stimme. Doch das, was sie sagte, bezog sich so böse auf Trudi, daß Georg sich keinen anderen als die Dux denken konnte, der mit dieser Abneigung sprach. Außer seine Mutter.
    Das Marzipankind und das Brüderchen hatten eine hohe Mauer um sich. Mutter. Vater. Andere aufgeregte Menschen, die Streichhölzer zückten und verloschene Kerzen anzündeten. Antes hatte sich dazwischengedrängt. Dem Kind den Kaschmirarm hingehalten und nur kurz an der Marzipanhaut geschnüffelt, als er weggeschoben wurde.
    Er war noch eine Weile hinter dem blauen Mond hergelaufen, den das Brüderchen an einem Stock schwenkte und halb auf die Erde hängen ließ, und hatte schließlich den Kinderschritt nicht mehr halten können. War zu ungeduldig geworden. Der Martinsmann zieht uns voran. Felix Antes zog an dem Marzipankind vorbei.
    Sich an die Seite schlagen. Etwas trinken gehen. Felix Antes fühlte sich in die Taschen des Mantels hinein. Suchte nach Münzen, die im Futter steckengeblieben waren. Doch er griff nur in glatte Seide und fand keinen Krümel.
    Er hatte noch einen kleinen Schein gehabt. Im eigenen Jackett. Antes faßte hinein und hatte den kalten Griff des Öffners in der Hand. Er sah Trudi fast im selben Augenblick.
    Sie ging neben einer zerdrückten Papierente her. Doch sie blieb stehen, als sie ihn erkannte. Drehte sich um. Lief davon.
    Lief davon, das dumme Ding. Er hatte doch die längeren Beine. Holte sie ein und drückte sie in einen Hauseingang hinein. Antes zog den Brieföffner hervor, der kurz aufblinkte vom Licht einer verirrten Laterne, die nah an ihnen vorbeigetragen wurde. Felix Antes lächelte dem Kind nach, das schon verschwunden war, und sah
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