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Das Sigma-Protokoll

Das Sigma-Protokoll

Titel: Das Sigma-Protokoll
Autoren: Robert Ludlum
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Großkunden wie Fred McCallan, der sich ein- oder zweimal eine Träne aus dem Augenwinkel tupfte. Alte Kollegen von seiner Schule in East New York. Neue Kollegen von der ähnlich verkommenen Highschool in Mount Vernon, wo er seit kurzem unterrichtete. Leute, die ihm und Anna in dieser schwierigen Zeit zur Seite standen. Und natürlich Anna selbst - seine Partnerin, Freundin und Geliebte.
    Ben stand an einem erhöhten Rednerpult am Kopfende der Halle und versuchte, all diesen Menschen etwas über seinen Vater zu erzählen. Zuvor hatten ein Streichquartett, das Max Hartman früher gesponsert hatte, das Adagietto aus Mahlers fünfter Symphonie gespielt und ehemalige Geschäftsfreunde ein paar persönliche Erinnerungen an den Menschen Max Hartman vorgetragen. Und jetzt sprach Ben zu der Trauergemeinde und fragte sich dabei unwillkürlich, ob seine Worte wirklich diesen Menschen galten oder nicht doch in erster Linie sich selbst.
    Man erwartete Worte über den Max Hartman, den nur er kannte. Obwohl er sich fragte, wie gut er ihn überhaupt gekannt hatte und ob es ihm vielleicht nie richtig gelungen war, ihn kennen zu lernen. Sicher war nur, dass er jetzt eine Aufgabe zu erfüllen hatte. Er schluckte schwer und setzte seine Rede fort.
    »Ein Kind glaubt immer, dass sein Vater alles kann. Es sieht die breiten Schultern, spürt den Stolz und die Überlegenheit. Der Gedanke, dass diese Kraft Grenzen haben könnte, ist völlig undenkbar. Vielleicht ist es ein Zeichen von Reife, wenn man diesen Irrtum schließlich erkennt.« Bens Hals schnürte sich zusammen. Er musste ein paar Sekunden innehalten, bevor er fortfahren konnte.
    »Mein Vater war ein starker Mensch, der stärkste, den ich gekannt habe. Doch auch die Welt ist mächtig, mächtiger manchmal, als ein Mann je sein kann. Und mag er sich noch so mutig und entschlossen der Umwelt zeigen. Max Hartman erlebte die dunkelsten Jahre des 20. Jahrhunderts. Er erlebte eine Zeit, die zum Vorschein brachte, wie schwarz das Herz des Menschen sein kann. In seinem Innern, das ist meine feste Überzeugung, hat ihn diese Erkenntnis tief verletzt. Er musste damit leben, musste mit diesem Wissen Kinder aufziehen und konnte nur beten, dass dieses Wissen das Leben seiner Kinder nicht so überschattete
wie sein eigenes. >Nach solcher Erkenntnis - welche Vergebung? ‹« Wieder hielt Ben inne und atmete tief durch, bevor er fortfuhr.
    »Mein Vater war auch der komplizierteste Mensch, den ich gekannt habe. Die geschichtliche Periode, die er durchlebte, war von atemberaubender Komplexität. Ein Dichter schrieb einmal: >Bedenke jetzt; die Geschichte hat viele listige Wege, findige Flure und Ausgänge, täuscht mit flüsterndem Ehrgeiz, lenkt uns durch Nichtigkeiten.<
    Mein Vater hat immer betont, dass er nur nach vorn schauen würde, nie zurück. Das war eine Lüge, eine tapfere und trotzige Lüge. Die Geschichte hat meinem Vater ihren Stempel aufgedrückt. Sein Leben lang hat er dagegen angekämpft. Seine Geschichte war nie nur schwarz oder nur weiß. Kinder haben ein sehr scharfes Auge. Doch für etwas haben Kinder kein gutes Auge: für Zwischenfarben. Für Schatten, für Grauzonen. Das Herz der Jugend ist rein. Die Jugend ist unnachgiebig, beherzt, hitzig. Das ist das Privileg des Unerfahrenen. Das ist das Privileg des moralisch Unversehrten, den die reale Welt noch nicht geprüft, noch nicht bestürmt hat.
    Manchmal hat man keine andere Wahl, als sich mit dem Bösen einzulassen, wenn man es bekämpfen will. Rettet man die Menschen, die man liebt, oder zieht man es vor, rein und unbefleckt zu bleiben? Ich weiß sehr wohl, dass mir diese Wahl erspart blieb. Ich weiß aber auch, dass die Hände der Helden rissig, verschorft, wund und voller Schwielen sind. Nur sehr selten bleiben sie unversehrt. Die Hände meines Vaters blieben es nicht. Er hat seinen Kampf gegen den Feind als sinnvolle Arbeit betrachtet. Erst im hohen Alter konnten all die guten Taten seine Schuldgefühle nicht mehr verdrängen. Er konnte nie verwinden, dass er überlebt hatte, während so viele von ihm geliebte Menschen gestorben waren. Noch einmal: >Nach solcher Erkenntnis - welche Vergebung?< Als Folge davon verdoppelte er seine Anstrengungen, das Richtige zu tun. Erst kürzlich habe ich begriffen, dass ich ihm gegenüber nie ehrlicher gewesen bin als zu jener Zeit, als ich gegen ihn und seine Erwartungen an mich rebelliert habe. Vor allen anderen Dingen will ein Vater dafür sorgen, dass seinen Kinder nichts zustößt.
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