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Das schwarze Messer

Das schwarze Messer

Titel: Das schwarze Messer
Autoren: Andreas Eschbach
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voller Marmorfiguren, griechischer Vasen und römischer Amphoren. Afrikanische Speere und Masken an den Wänden. Vitrinen mit Goldschmuck aus dem Mittelamerika der Konquistadoren. All diese Dinge hatten ihn einmal glücklich gemacht, für mehr oder weniger lange Zeit, bis ihre Wirkung nachgelassen und er aufs Neue hatte losziehen müssen.
    Schließlich erreichte er einen mächtigen Schrank am Ende des Raums. Ein uralter, abgeschabter Polstersessel stand davor. Der Schrank war ebenfalls alt, die Machart seiner Schubladen zu seiner Zeit eine Meisterleistung gewesen. In ihm verwahrte Alain Whitstock II. die kostbarsten Stücke seiner Sammlung: Pfeilspitzen, gefertigt von den ersten Menschen in Afrika, Faustkeile der Neandertaler und dergleichen mehr. All diese Schätze ruhten, auf hellgelben Samt gebettet, in den verschiedenen Schubladen. Hier verbrachte Alain die meiste Zeit, deswegen auch der Sessel: In ihm konnte er stundenlang verharren, ein oder zwei Stücke behauenen Feuersteins in Händen, und dem fernen, aber immer noch wahrnehmbaren Gefühl nachspüren, es genießen, jenes Gefühl, das ihn erdete, das ihn mit Zufriedenheit erfüllte wie nichts sonst.
    Leider war höchst zweifelhaft, dass ihm das mit diesem Messer genauso gehen würde.
    Er zog das hölzerne Etui aus der Tasche, in dem der Abt des Schreins das Messer ausgehändigt hatte, im Austausch gegen das Geld. Alain hatte bar bezahlt; es war ein kleiner Koffer voller Yen-Scheine gewesen.
    Er löste die kunstvolle Schließe, nahm das steinerne Messer heraus und wiegte es in Händen.
    Ja, da war es, das Gefühl  – aber gleichzeitig wurde die fiebrige Erinnerung daran wach, wie er diesen alten Mann umgebracht hatte. Wie er mit klopfendem Herzen durch dessen winzige, dunkle Wohnung geschlichen war, wie er den Alten wachgerüttelt und gefragt hatte: »Ichiro Makoto?«, und wie er, als dieser mit einem verschlafenen »Hai!« geantwortet hatte, ihm daraufhin das Kissen aufs Gesicht gedrückt hatte, mit aller Kraft und so lange, bis der Mann aufgehört hatte, sich zu wehren, und seine Glieder schlaff geworden waren.
    War es das wert gewesen? Er hatte es in dem Moment geglaubt. Aber nun ertrug er es nicht mehr.
    Jäher Zorn wallte in ihm auf. Das war alles nur geschehen, weil der Abt ihn so sehr an seinen Vater erinnert hatte! Nur deshalb hatte er es getan. Weil er keinen anderen Weg gesehen hatte. Weil er tief in seinem Inneren geglaubt hatte, das Messer in seinen Besitz zu bringen würde bedeuten, dass er seinem Vater endlich, endlich einmal etwas abgerungen hatte.
    Aber nun, da er das Messer besaß, fühlte es sich so schrecklich schwer an, so schrecklich schwarz. Es war kein Glück darin. Nein, es lag auf seiner Seele wie eine furchtbare Last.
    Er bückte sich, zog die unterste Schublade auf, in der ein Haufen belangloses Zeug lag – Verpackungsmaterial, Steine, die er als Kind gesammelt hatte, Schachteln mit durchgebrannten Glühbirnen und dergleichen – und stopfte das Messer hastig darunter. Dann schob er die Lade wieder zu, fest entschlossen, die ganze Geschichte zu vergessen.
    – ENDE –
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