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Das schwarze Messer

Das schwarze Messer

Titel: Das schwarze Messer
Autoren: Andreas Eschbach
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als Plastik.
    Indessenwaren ein paar weitere Besucher aufgetaucht; zwischen ihnen fuhrwerkten hier und da junge Frauen in roten Röcken und weißen Blusen herum, die zum Personal zu gehören schienen. Alain sah auf die Uhr. Es war trotz allem noch früh am Tag. Er konnte zurück ins Hotel fahren, frühstücken – und dann? Etwa in die Innenstadt, nach irgendwelchen Antiquariaten suchen? Nein, das war langweilig.
    Sein Blick fiel auf ein Schild, das kunstvolle japanische Schriftzeichen zierten. Darunter stand in mangelhaftem Englisch, es weise den Weg zur eigentlichen »Insel der Heiligen«.
    Seltsam: Wieso wurde ein Schrein nach einem Teil benannt, der gar keine zentrale Rolle zu spielen schien?
    Die »Insel« war nicht echt. Das überraschte Alain wenig: Dafür liebten die Japaner alles Künstliche, Stilisierte viel zu sehr. Was er vorfand, war ein rechteckiger See von etwa den Abmessungen eines kleinen Swimmingpools, in dessen Mitte man eine Insel aus Kies aufgeschüttet hatte. Die mochte, nun ja, gerade groß genug sein, um zwei Heilige darauf zu begraben. Oder auch ein paar mehr, falls man die Heiligen einäscherte und nur Urnen bestattete, was, soweit Alain informiert war, in Japan ohnehin der Normalfall war.
    Über dem Ganzen hing drohend ein massives Dach aus tiefschwarzem Holz. Es wurde von zwei Reihen dicker Säulen gestützt, begann sich aber in der Mitte schon durchzubiegen. Alles in allem, befand Alain, ein hübsches Arrangement: Stand man auf der vermutlich für Besichtigungs- und Verehrungszwecke vorgesehenen Stirnseite des künstlichen Sees, bot sich einem jenseits des Wassers der Blick in eine zauberhaft gestaltete Landschaft aus Bonsai-Bäumen, bemoosten Steinen, Schilfgras und jungem Bambus. Wenn man das Drumherum ausblendete, sah die Wasserfläche vor diesem Hintergrund tatsächlich fast aus wie ein See.
    Ganz hübsch. Aber auch nicht das, was er suchte.
    Auf der Insel stand ein kleiner Altar; aus Bambus, wie es schien. Ein paar Gegenstände lagen darauf; ein Spiegel aus Silber, eine Haarspange ... War das überhaupt ein Altar? Ein bisschen sah es aus, als habe jemand einer Frau den Schminktisch gestohlen und auf dem zu Mustern gerechten Kies ausgesetzt.
    Man sah fast nichts in dem fahlen Licht. Alain beugte sich vor, sah genauer hin. Da lag noch eine Art Messer, ein Messer aus einem dunklen Material. Es glänzte.
    Und irgendwie hatte es was.
    Alain trat an die vorderste Kante des Platzes, auf die schmalen Randsteine, die diesen umgaben. Wenn man nur besser gesehen hätte! Der See, so klein wie er war, bildete ein Hindernis.
    Diejenigen, die den Schrein pflegten: Wie gelangten die auf die Insel? Gab es irgendwo ein Brett, das als behelfsmäßige Brücke diente? Vermutlich. Alain betrachtete die Böschung. Sie bestand aus Erde und war ein wenig aufgewühlt, so, als wäre mal jemand, der sich zu weit vorgewagt hatte, ins Wasser gefallen. Er sah eine Fußspur, so klein wie die eines Kindes. In einiger Zeit würde sie wieder von dem dünnen, hellgrünen Gras zugewachsen sein, das das äußere Ufer bedeckte.
    Das Messer. Es glänzte nachtschwarz. Es glänzte verlockend. Alain wandte den Kopf, sah nach links, nach rechts: Niemand zu sehen. Sonderlich tief waren solche künstlichen Seen doch eigentlich nie, oder? Eine Handspanne vielleicht.
    Alain trat über den Rand auf die Böschung. Noch ein Schritt. Er trat ins Wasser – und versank bis zu den Knien darin.
    Egal. Nun war es schon passiert. Er tat einen weiteren Schritt, hatte den Altar erreicht, konnte das Messer in die Hand nehmen ...
    Unwillkürlich stöhnte er auf, schloss die Augen. Das Gefühl , endlich! Und so intensiv, so überwältigend, wie er es noch nie zuvor erlebt hatte.
    Das war es. Bei diesem Ding würde das Gefühl sich nicht abnutzen, zeit seines Lebens nicht verschwinden.
    Er musste es haben!
    Es gab Tage, an denen der Schrein vorwiegend seltsame Menschen anzog, und dies schien einer davon zu sein. Sato Tanjirō der Kannushi des Schreins, konnte den Gaijin gerade noch daran hindern, den Honden zu betreten, das Allerheiligste. Aber genau genommen war der Mann auch für den Haiden , die Gebetshalle, eine Zumutung. Der Stoff seiner unverkennbar teuren Hosen triefte vor Nässe, seine kostspieligen Schuhe hinterließen Schlammspuren – die Frauen, die den Schrein sauber hielten, würden sich nachher bestimmt beschweren.
    Dann sah Tanjirō, dass der Mann das Schwarze Messer aus dem Waka-den , dem Nebenheiligtum, bei sich hatte, und
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