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Das Schützenhaus

Das Schützenhaus

Titel: Das Schützenhaus
Autoren: Georg Lentz
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verbarrikadierten uns im Keller. Euer Vater war immer noch auf dem Gut, dann sollten sie einen Ausbruchversuch machen zur Armee Wenck. Heute weiß man, die Armee gab es gar nicht mehr. Aber überall gab es ein paar Verrückte. Hier ins Schützenhaus zog einer ein, nannte sich Kampfkommandant. Krause mußte zum Volkssturm, in seinem Alter. Er haute aber ab. Wir haben ihn im Keller versteckt. Dann waren sie weg, und das Theater begann mit den Russen.«
    »Erzähl das nicht auch noch alles«, sagte Anneli. Ich sah sie an. Wie hatte sie, wie hatten Tante Deli, Isabella, Lydia diese Zeit durchgestanden?
    Ich fragte nicht.
    »Joachim pellten wir aus seiner Uniform, falls ich dies noch berichten darf«, sagte Tante Deli. »Der war mit Krause versteckt, in Zivilklamotten. Als die Russen da waren, haben wirJoachim als Chaplin verkleidet. Den ollen Gocks von Vater auf die Birne, mit Tinte den Bart angemalt. Der sah echt aus. Von Opa waren die ollen Stresemannhosen, für den Frack haben wir ’nen Gehrock abgeschnitten. Weißt du, daß Opa russisch kann? Das Telefon funktionierte zuerst noch, er rief von Lindow an und sagte uns, wie Kino auf russisch heißt, und es sei ein Buch da, in dem die Buchstaben drin sind. Wir fanden das Buch, und mit dem dick gewordenen Karbolineum haben wir das angemalt, es war einfach, weil es im Russischen auch Kino heißt, glaube ich, oder? Nur die Buchstaben sind fremd. Aber es sah gut aus. Wir haben die Chaplin-Filme eingespannt, Joachim hat sich vor das Kino gestellt in seiner Verkleidung, dann haben wir die Russen eingeladen. Ein Erfolg! Das sind ja alles Stummfilme. Die Rußkis haben gelacht, daß man es draußen hörte. Wir wurden alle Künstler, Lebensmittelkarte eins, als das wieder losging. Ein Kinooffizier kam, der sprach fließend deutsch. Hat alles geregelt.«
    »Nur die neuen Projektoren sind weg«, sagte Joachim. »Reparationsleistung. Die alten haben sie uns gelassen.«
    »Und«, fragte ich, »spielt ihr? Spielen wir?«
    Joachim grinste. »Heute abend wieder Brausewetter, ›Der verzauberte Tag‹. Goebbels hatte den Film verboten.«
    »Wer sieht sich das an?«
    «Wer? Unsere alten Stammkunden. Soweit sie übriggeblieben sind. Neuerdings auch Amis mit ihren Mädchen.«
    »Deutsche Filme sehen die sich an?«
    »Die Mädels übersetzen ihnen, worum es geht.«
    Lydia trug etwas in der Schürze herbei, ließ mich einen Blick riskieren. »Der Arsch mit Ohren«, sagte sie. »Damals, beim Bombenangriff, ist er heruntergefallen. Ich habe die Stücke zusammengeklebt.«
    »Mach die Würstchen warm«, sagte Tante Deli.
    Dann ist es Nacht, das Fenster, wieder mit Glasscheiben versehen, steht offen. Draußen in den Bäumen rauscht der Wind wie damals, wie all die Jahre, ein Käuzchen schreit. Käuzchenschreie bedeuten Unglück, hätte Oma gesagt. Aber wir, Anneliund ich, wir wissen, daß ein Käuzchenschrei nicht mehr ausreicht.
    Nun nicht mehr.
    Sprechen wir über das, was unvermeidbar sich nach vorne drängt? In den alten, üppigen Federbetten vergraben wir uns, Anneli und ich. In eins der Abstehohren möchte ich Anneli flüstern: »Sag’s mir! Wie war das mit den Russen?«
    Sie spürt es. Und nun ist sie es, die in mein Ohr flüstert: »Frag mich nie danach. Vielleicht erzähle ich es dir, eines Tages, wenn alles so ist wie früher. Versprichst du es?«
    Ich verspreche es. Das Schützenhaus gleicht einem Schiff, das uns durch die Nacht entführt. Wohin, wohin?
    Es ist nicht mehr wichtig, wohin.
    Ede Kaiser ist fort. Hier paßt das Wort: Er ist von uns gegangen. Zusammen mit unserem Vater rückte Ede der Armee Wenck entgegen, drei oder vier Tage vor der Kapitulation Berlins. Mein Vater erzählte: »Das war kein Husarenstück mehr. Russische Ratas, ihre Motoren dem Geräusch von Nähmaschinen ähnlich, hingen über uns. Wir steckten im Grunewald, bewegten uns nicht mehr vorwärts. Eines Morgens warfen sie Splitterbomben, wir warfen uns auf den Boden. Wo Ede gelegen hatte, war eine leere Stelle. Ich stand auf und sah mich um, und Ede war verschwunden. Er war nicht verwundet, nicht tot, weder lag die Mütze von ihm da noch Helm, Gasmaskenbüchse, die Stiefel – er war verschwunden. Nichts war von ihm da.«
    »Es könnte demnach sein«, warf Joachim ein, »daß er lebt.«
    Mein Vater schüttelte den Kopf. »Er lebt nicht«, sagte er.
    Woher nahm er die Gewißheit für diesen Satz, der endgültig schien? Ich weiß es nicht. Niemand fragte. Minnamartha, Edes Frau, gab Suchanzeigen auf. Ohne
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