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Das Schattenbuch

Das Schattenbuch

Titel: Das Schattenbuch
Autoren: Michael Siefener
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als ob das Buch warm und lebendig
wäre. Er betrachtete es von allen Seiten. Es war wie neu.
Auf dem Rücken, über den fünf Bünde liefen,
waren zwischen dem obersten und dem zweiten Bund die durch einen
Bindestreich getrennten goldenen Wörter Schattenbuch eingeprägt. Nur am oberen Rand waren die Blätter
beschnitten. Arved öffnete das Buch.
    Auf dem dicken, weißen Bütten des Titelblatts
stand: Schattenbuch. Von Thomas Carnacki. Mit drei
Holzschnitten. Privatdruck. Arved blätterte um und kam
zum ersten der angekündigten Holzschnitte. Er zeigte eine
Bibliothek in einem hohen Raum mit einem Rundbogenfenster. Auf
einem Beistelltisch zwischen zwei ausladenden Sesseln lag ein
aufgeschlagenes Buch, aus dem etwas hervorzuwachsen schien, das
groteskerweise wie ein Bergfried aussah. Die Szene erinnerte
Arved stark an das Zimmer, in dem er augenblicklich saß.
Unwillkürlich hob er den Blick und schaute sich um. Die
Regale, der Tisch, die Sessel… Nur gab es hier kein
Rundbogenfenster, und der Raum war bei weitem nicht so hoch wie
der auf dem Holzschnitt. Auf dem Blatt nach der Illustration
begann eine Geschichte mit dem Titel: Die Sammlerin. Beim
raschen Durchblättern fand Arved auch die beiden anderen
Holzschnitte, die er sich nicht eingehend anschaute, und stellte
fest, dass noch zwei Geschichten folgten. Das ganze Buch hatte
nur 128 Seiten. Er gab es Lioba zurück.
    Inzwischen hatte sie alle Bücher ausgepackt. Die beiden
Stapel waren nun annähernd gleich hoch. Sie deutete auf
jenen mit den für wertlos befundenen Büchern.
»Wenn Sie mir einen großen Gefallen tun wollen,
können Sie die hier in die Mülltonne hinter dem Haus
werfen. Wenn Sie sich einen oder mehrere Bände nehmen
wollen: nur zu.«
    Arved stand auf, packte das unterste Buch des Turms und hob
diesen vorsichtig an. Lioba hielt derweil den Erzählband in
der Hand, ließ die Blicke vom einen Bücherstapel zum
anderen gleiten und legte das schön eingebundene Werk zu
Arveds großem Erstaunen auf die zu entsorgenden
Bücher.
    »Man kann nicht alles behalten«, meinte Lioba
entschuldigend. »Ich habe noch nie etwas von einem Carnacki
gehört, und die Holzschnitte sind zwar Originale, aber sie
gefallen mir nicht. Ich fresse einen Besen, wenn sie etwas wert
sind. Das ist eines der Bücher, die nur darauf aus sind,
Staub zu sammeln. Ich zeige Ihnen den Weg in den Hof.«
    Sie ging vor Arved her und stapfte mit ihren Wanderschuhen
laut über den Steinboden im Flur. Als sie den Hintereingang
öffnete, drang verstohlene Helligkeit herein. »Vielen
Dank«, sagte sie und war schon wieder im Innern des Hauses
verschwunden.
    Arved balancierte mit den Büchern über die Treppe,
die in den Hinterhof führte. Er stellte die in Ungnade
gefallenen Werke neben der blauen Tonne ab und öffnete
diese. Es befanden sich schon einige Bücher darin.
Nacheinander legte er die Neuankömmlinge dazu. Als er die
Tonne schließen wollte, fiel ein Schatten hinein. Arved
ließ den Deckel los, der nach hinten klapperte. Der
Schatten war verschwunden; vielleicht war es eine Wolke gewesen,
die unter der Sonne hindurch geglitten war.
    Aber es schien keine Sonne.
    Der Himmel war hellgrau, und ein gleichmäßiges
Licht lag über dem stillen Hinterhof, in dem sich eine Linde
verbissen gegen Stein und Asphalt behauptete. Die übrigen
Häuser des Blocks drängten sich aneinander, als suchten
sie Schutz beim anderen. Mauern und Zäune liefen von allen
Seiten zu der in der Mitte stehenden Linde; es war Arved, als
streckten sie zaghafte Arme und Fühler aus, um sich des
einzigen lebenden Dings in ihrer Gegenwart zu versichern.
    Die blaue Tonne hatte ihren Schlund noch immer weit
geöffnet. Arved schaute hinein, als er nach dem Deckel
tastete. Der Schatten hatte sich nicht verzogen, er lauerte
zwischen den Büchern, von denen einige aufgeklappt waren.
Zuoberst lag der Erzählband, dabei war sich Arved sicher,
dass er ihn als Erstes in die Tonne gelegt hatte. Er streckte die
Hand danach aus.
    In der Linde schrie ein Vogel. Arved zuckte zusammen. Der
Vogel kreischte noch einmal und flog als verwischter Schatten
unter dem grauen Himmel fort. Vielleicht war es eine Elster
gewesen. Arved griff nach dem Buch. Es schien sich gleichsam
gegen seine Finger zu schmiegen. Er zog es aus der Tonne und
ließ den Deckel laut zufallen. Wie eine Beute trug er das
Buch zurück ins Haus.
    Er fand Lioba damit beschäftigt, die Bücher, die ihr
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