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Das Schattenbuch

Das Schattenbuch

Titel: Das Schattenbuch
Autoren: Michael Siefener
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Herbstwald, wie das Schreien des Sturms in tiefen
Schluchten. Sie griffen nach Arved und Lioba, die sich nicht mehr
regen konnten. Lioba sah plötzlich Bilder von gequälten
Leibern, von Verzweifelten, von Einsamen, von gewaltigen
unterirdischen Räumen, von feucht glänzenden Kavernen,
aus denen unnennbares, unbeschreibliches Gewürm hervorkroch.
Sie schrie auf. Ihr Schrei vermischte sich mit dem Chor der
anderen. Doch er bewirkte, dass sie sich wieder regen konnte. Sie
streckte die Arme aus, fand Arved, drückte ihn an sich.
Sturm kam auf, schien aus ungeheuren Tiefen der Höhle
heranzuwehen. Über all den schrecklichen Lauten webten noch
immer die beiden Stimmen. Sie lachten, sie lockten, sie
forderten. Arved schrie entsetzt auf, auch ihn schienen die
Bilder zu bestürmen.
    »Sie haben keine Macht!«, brüllte Lioba durch
das Chaos. »Schließ die Augen. Es ist alles nur in
dir!« Sie machte ebenfalls die Augen zu. Aber die Bilder
hörten nicht auf. Nervenzerfetzende Monstrositäten
krochen aus den Wänden des Tunnels, schlangen ihre
schleimigen Tentakel um sie, zerrten an ihr, als wollten sie
Lioba zerreißen, doch sie drückte sich nur noch enger
an Arved. Etwas zerrte sie voran.
    Die Tentakel verloren den Halt, zogen sich in die Wände
zurück. Sie lief schneller, wurde gleichzeitig schneller
gezogen. Aber sie wagte noch nicht, die Augen zu öffnen. Sie
schien in einen Teich aus Milch einzutauchen, zäh, klebrig,
und am Boden erwartete sie ein körperloses Lächeln. Ein
Lächeln, das in ihr das Bild eines Mundes mit angefeilten
Zähnen erschuf, obwohl da gar kein Bild war. Dann fiel sie
ins Bodenlose. Die Milch floss ab, die Helligkeit blieb. Etwas
riss an ihr, riss ihr die Haut blutig, sie sah hin, es war etwas
Grünes, Widerspenstiges. Sie sah eine Hand, die es
wegdrückte. Eine wunderbar vertraute Hand. Die Hand half ihr
hindurch. Grün gefiltertes Sonnenlicht fiel auf den kleinen
Vorsprung, auf dem Arved und sie nun standen. Hinter ihr drohte
der Eingang der Höhle, schwarz und still. Arved führte
Lioba den Hang hoch auf den Weg.
    Schweigend, aber die Arme umeinander geschlungen, auch wenn es
unbequem war, gingen sie nach Manderscheid.
    Sie kamen an Arveds Bentley vorbei, aber versuchten erst gar
nicht, ihn aus dem Gras zu befreien. Sie liefen über den
Wirtschaftsweg, sahen sich immer wieder um, meistens
gleichzeitig, nichts verfolgte sie. Der Ort umfing sie mit seiner
Normalität wie eine fremde Welt. Erst als sie Arveds Haus
betreten hatten und in der Sicherheit der Diele standen, wagten
sie es, sich zu umarmen und zu küssen.
    Lilith und Salomé kamen neugierig herbei,
beschnüffelten sie und schmiegten sich an sie.
    Das Schattenbuch hatte seine Macht endgültig
verloren.

 
Epilog
     
     
    Das Meer tat ihnen gut. Die frische, salzige Luft vertrieb die
letzten Schatten, die Liebe erschuf ihnen neue Welten, jeder Tag
war wie eine Exkursion in ein unbekanntes, wundervolles Land. Die
nächsten Tage wollten Arved und Lioba in Husum, der grauen
Stadt am Meer verbringen, Storms Geburtsort. Nachdem sie in der
Nähe im Meer gebadet hatten, fuhren sie zurück ins
Hotel, wuschen das Salz von ihrer Haut, liebten sich, zogen sich
an, fuhren mit Liobas neuem Renault Megane in die Stadt und
schlenderten durch die ruhigen Gassen und Straßen. In einem
der kleinen alten Giebelhäuschen, die Husum den Anschein
eines aus der Zeit gefallenen Ortes verliehen, entdeckten sie zu
ihrer Freude ein Antiquariat. Hand in Hand gingen sie hinein.
    Die Buchhändlerin, eine junge, blonde Frau mit kleiner
Brille und schalkhaftem Blick, begrüßte die Touristen
mit »Moin, moin«, auch wenn es schon nach drei Uhr
nachmittags war, und amüsierte sich über den Versuch
des Paares, auf gleiche Weise zu antworten. Lioba fragte nach
okkulten Büchern, und tatsächlich konnte die Antiquarin
ihr einige schöne Stücke vorlegen, die Lioba für
ihr eigenes Geschäft kaufte.
    Währenddessen stöberte Arved ein wenig herum. Das
Schwimmen und die Liebe hatten ihn angenehm schläfrig
gemacht. Er sah die Titel auf den Buchrücken, und er sah sie
nicht. Sie tanzten vor seinen Augen herum. Lioba unterhielt sich
mit der Antiquarin ein wenig, gab sich als Kollegin zu erkennen,
und bald saßen die beiden bei einem starken, schwarzen
Kaffee beisammen.
    Da betrat ein weiterer Kunde den Laden. Er war der Antiquarin
offenbar bekannt, interessierte sich nur für das Regal mit
den
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