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Das Schattenbuch

Das Schattenbuch

Titel: Das Schattenbuch
Autoren: Michael Siefener
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auf
ihn ein. Wehmütig erinnerte er sich an den Duft des
Weihrauchs, an die Kühle der großen, barocken Kirche,
an die alten Schränke in der Sakristei und den anheimelnden
Geruch, den sie verströmten. Es waren Erinnerungen an
Äußerlichkeiten aus einer Zeit, in der sein Inneres
bereits hohl geworden war. Er richtete den Blick wieder geradeaus
und erkannte in der Ferne bald die schwarze, sich zwischen die
Häuser zwängende Masse der Porta Nigra, jenes Symbols
alter Größe und Macht aus einer Zeit, in der das
Christentum gerade erst seinen Siegeszug antrat – Zeichen
einer anderen Zeit, einer Zeit des Umbruchs, der Ungewissheit,
des Niedergangs und Neubeginns. Er mochte dieses römische
Stadttor mehr als Sankt Paulin.
    Der Regen hatte viele Passanten von der Straße
vertrieben, doch Arved wollte sich vom Ritual dieses Tages nicht
abbringen lassen. Jeden Mittwoch besuchte er den Dom, aß im
Restaurant Zum Domstein zu Mittag – immer Wildragout
mit Kroketten und Preiselbeeren, danach ein Mokka – und
dann stattete er Lioba Heiligmann einen kurzen Besuch ab. So
machte er es auch an diesem Tag, der sich scheinbar durch nichts
von vielen vorangegangenen Mittwochen unterschied.
    Als er endlich vor dem schmalen Haus in der
Krahnenstraße stand, an dessen Fassade der Efeu immer
größere Flächen beanspruchte und das Gebäude
allmählich in einen lebenden Organismus zu verwandeln
schien, hatte es zu regnen aufgehört. Die beiden beinahe
blinden Fenster im ersten Stock starrten wie ins Nichts oder in
die Vergangenheit, das kleine Bodenfenster blickte nachdenklich
in den Himmel, und die Farbe an der Tür blätterte immer
stärker ab. Man ahnte nicht, dass sich hinter dieser Fassade
einer der weltweit größten Bücherbestände
auf dem Gebiet des Okkulten, Magischen und Unerklärlichen
befand. Lioba Heiligmann war Antiquarin, die ihr Geschäft
von zu Hause aus betrieb; der Gedanke an ein Ladenlokal war ihr
zuwider; zu viele Kunden, die mit fettigen Fingern und
Eistüten in der Hand ihre Schätze durchstöbern
würden, sagte sie immer.
    Arved stieg die vier Stufen zur Haustür hoch – und
stutzte.
    Vor der Tür stand ein Karton mit Büchern. Obwohl es
vorhin heftig geregnet hatte, waren die Bücher trocken und
unbeschädigt; erst kurz zuvor musste sie jemand hier
abgestellt haben. Arved runzelte die Stirn und klingelte.
    Lioba Heiligmann öffnete so rasch, dass Arved annahm, sie
habe auf ihn gewartet.
    Sie lächelte ihn an. »Arved Winter! Welch eine
Freude. Sind Sie wieder mal in Trier? Schön, dass Sie mich
besuchen.«
    Es sollte überrascht klingen, aber eine schwache Spur
Ironie schwang in ihren Worten mit – wie jedes Mal. Dann
bemerkte auch sie den Bücherkarton und zog die Augenbrauen
hoch. »Haben Sie mir etwas mitgebracht? Wie war das noch
mit Athen und den Eulen?« Ihre dunkle Stimme verursachte
bei Arved ein angenehmes Gefühl von Wärme.
    »Ich habe keine Ahnung, wer die Bücher hier
abgestellt hat. Als ich ankam, waren sie schon da.«
    Lioba Heiligmann bückte sich und hob die obersten
Bände kurz an. Sie machte »hm« und
»aha« und wuchtete dann den ganzen Karton mit
verblüffender Leichtigkeit hoch. »Langjährige
Übung«, sagte sie zu Arved, dessen bewundernder Blick
ihr nicht entgangen war. »Kommen Sie mit nach drinnen, der
Kaffee wartet schon.«
    Arved folgte ihr in das dunkle, kühle Innere des Hauses,
das sich erfolgreich gegen jeden Sommer wehrte. Amüsiert
betrachtete er Lioba, die vor ihm her in ihr Wohnzimmer ging, das
gleichzeitig ein Teil ihrer ungeheuren Bibliothek war. Wie immer
trug Lioba Heiligmann klobige Wanderschuhe und eines ihrer
berüchtigten geblümten Kleider, über dessen
Schulter das mit silbernen Streifen durchzogene braune Haar wie
ein Wasserfall wallte. Sie stellte den Karton auf dem
Perserteppich ab und rieb sich die Hände.
    »Ein wenig staubig, dieses unverhoffte Geschenk«,
sagte sie, drehte sich um und schaute Arved fragend an.
    Er faltete die Hände vor dem nicht allzu unscheinbaren
Bauch und zuckte gleichzeitig hilflos die Schultern. Ihr Blick
machte ihn immer ein wenig nervös. Sie war achtundvierzig
Jahre alt, zehn Jahre älter als er, und auf eine
nachlässige Art schön. Manchmal träumte er von
ihr.
    »Was stehen Sie so herum wie ein verlegener Schuljunge?
Setzen Sie sich. Sie sind hier doch schon beinahe zu Hause
– wenn auch nur mittwochs.« In ihrer Stimme lag
wieder dieser milde
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