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Das Schattenbuch

Das Schattenbuch

Titel: Das Schattenbuch
Autoren: Michael Siefener
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umgebracht hatte?
    »Ihr seid irre! Ihr seid verrückt!«, brach es
aus ihr hervor. Sie hatte noch immer die Lider geschlossen.
    Das Gelächter zerriss sie beinahe. Dann öffnete sie
wieder die Augen.
    Vampyr lehnte sich gegen die Messerwand. »Verrückt,
sagst du? Können Verrückte so etwas erschaffen?«
Er klopfte gegen die Holzbretter. »Erschaffen
Verrückte Bücher, die erst Jahrzehnte später ihren
rechtmäßigen Besitzer finden? Schaffen Verrückte
Kunstwerke, die erst in Jahren die richtigen Spuren zeigen? Jahre
sind für uns wie ein Augenblick. Jahrhunderte sind nichts
anderes als das Fortscheuchen einer lästigen Fliege,
Jahrtausende bloß ein müßiger Gedanke. Wir
hatten die Pläne für dich schon, als du noch gar nicht
geboren warst. Und wir haben bereits viele andere Pläne,
nicht wahr, Jonathan?«
    Jonathan nickte und zeigte sein Raubtiergebiss. Erst jetzt
erkannte Lioba, dass seine Zähne angefeilt waren.
Haifischzähne. »Der Mensch ist frei«, sagte er.
»Aber das heißt nicht, dass er sich nicht
verantworten muss.«
    Lioba spürte, wie in ihr etwas zerbrach. Sie hörte
es beinahe.
    Und die beiden hörten es auch. Vampyr ließ die
Mundwinkel fallen, aber Jonathan grinste triumphierend. War es
ein wirkliches Geräusch gewesen? Aber was war hier noch
wirklich? Das Geräusch hatte einen kleinen Hall erzeugt, wie
von einem unendlich fernen Erdrutsch. Die Kerzenflammen
flackerten kurz, dann brannten sie wieder still und gerade, wie
Säulen, die das Gewölbe der Unendlichkeit zu tragen
hatten. Wie viel Zeit mochte inzwischen vergangen sein? Wie viel
Zeit blieb ihr noch? Wann würde die Wand auf sie
zuschnellen?
    »Du hast noch eine winzige Chance«, sagte Vampyr,
»aber du selbst kannst sie leider nicht nutzen. Es ist ein
Spiel gegen die Zeit.« Er trat einen Schritt vor und
streichelte ein besonders weit vorstehendes Schlachtermesser.
»Sie werden deine Seele freilegen. Und wir werden sie
essen.«
    O Gott, wenn doch bloß jemand sie hier herausholen
würde! Arved?, schoss es ihr durch den Kopf. Aber wie sollte
er sie finden? Nein, das war aussichtslos. Sie musste das aus
eigener Kraft durchstehen. »Ich werde nie wieder einen
Menschen gegen den anderen ausspielen«, sagte sie.
    »Und das sollen wir dir einfach so glauben?«,
fragte Jonathan.
    »Ja. Ich will nur noch für Arved da sein. Er hat
meinem Leben eine neue Richtung gegeben. Ich liebe ihn. Ich
würde ihn niemals verletzen.« Es war die Wahrheit. So
hatte sie noch nie geliebt, das erkannte sie nun. Sie hatte noch
nie einen anderen Menschen zum Mittelpunkt ihres Lebens gemacht.
Doch nun war Arved da, und ihr ganzes Sein war auf ihn gerichtet.
Sie spürte, wie sich etwas in ihr löste.
    »Sollen wir sie freilassen?«, fragte er
Vampyr.
    Der Künstler mit den Sternenaugen massierte sich
nachdenklich die Unterlippe. Dann trat er ein paar Schritte vor
und stellte sich neben Lioba. Sie roch seinen Gestank –
denselben Gestank wie damals, als sie ihn in Kornelimünster
aufgesucht hatten. Seine Hand bewegte sich auf ihre Fesseln zu.
Doch er zog sie wieder zurück. »Es war ein langer Weg
bis hierher, nicht wahr?«, meinte er. »Neugier ist
eine gute Eigenschaft, doch manchmal findet man nicht das, was
man gesucht hat. Manchmal findet man sich selbst. Und das tut
immer weh. Das wirst du gleich spüren, Lioba
Heiligmann.«
    »Was soll ich denn noch tun?«, rief sie
verzweifelt.
    »Abwarten«, sagte Jonathan.
    Wieder ein Geräusch. Nein, es kam nicht aus Lioba,
diesmal nicht. Die beiden sahen sich an. Sie nickten einander
zu.
    Und verwandelten sich.
    Die Kerzen flackerten. Als das Licht sich wieder beruhigt
hatte, standen zwei andere Männer vor Lioba.
    Victor und Manfred.
    Es krampfte ihr das Herz zusammen. Manfred sagte: »Du
hättest mich retten können, aber du hast nicht einmal
an mich gedacht.« Er bückte sich und fingerte an einem
verborgenen Mechanismus hinter der Messerwand herum. Etwas
klackte, und nun tickte es regelmäßig – wie eine
Zeitschaltung. Er richtete sich wieder auf und sah Lioba
anklagend an.
    Victor stand nur schweigend da. Aber sein Blick reichte, um
Tränen in Liobas Augen zu schicken. Und plötzlich
befand sich ein weiterer Schemen zwischen ihnen.
    »Lioba!«
    Es war Arveds Stimme. Zuerst schien es Lioba, als dringe sie
aus einem Traum zu ihr, aus einem Wunschtraum. Aber dann war er
bei ihr und zerrte an ihren Fesseln. »Arved!«
    »Wo sind sie?«, fragte er
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