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Das Sakriversum. Der Roman einer Kathedrale.

Das Sakriversum. Der Roman einer Kathedrale.

Titel: Das Sakriversum. Der Roman einer Kathedrale.
Autoren: Thomas R. P. Mielke
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gegen den Papst mit der Beschuldigung der Amtserschleichung und der Ketzerei gefordert hatte, fand nicht mehr statt. Wäre es zusammengetreten, hätte es einige merkwürdige Widersprüche zwischen dem offiziellen Anspruch und dem privaten Verhalten des Papstes aufdecken müssen.
    Benedikt Gaetani war um 1235 oder einige Jahre früher geboren worden. Obwohl er später Priester, im Jahre 1281 Kardinal und am 24. Dezember 1294 sogar Papst geworden war, gab es recht Rätselhaftes in seinem Leben. Das erste, nämlich die Vorliebe für die Lehren von der »doppelten Wahrheit« des islamischen Philosophen und Juristen Ibn Ruschd, genannt Averroës von Cordova, hatte ihm die Anklage der Ketzerei eingebracht.
    Der zweite dunkle Punkt im Leben des späteren Papstes war kein bewußtes Vergehen gegen die Gesetze der Kirche, sondern eher ein unbedachter Fehltritt gewesen. Im Alter von sechzehn Jahren hatte er während einer Pilgerreise zur 1218 begonnenen Kathedrale von Amiens in Frankreich eine junge Adelige aus dem Geschlecht derer von Coburg geschwängert.
    Erst zehn Jahre später, als Priester in Anagni, hatte er erfahren, daß er einen Sohn namens Roland von Coburg besaß. Benedikt war kein Mann, der Dinge in der Schwebe ließ. Obwohl er zunächst vorgehabt hatte, sein Vergehen durch einen geschickten Giftmord aus der Welt zu schaffen, entschloß er sich letztendlich, der »doppelten Wahrheit« den Vorzug zu geben.
    Er sorgte dafür, daß sein Sohn in einer der ersten Kathedralen-Bauhütten unterkam. Die strengen Gesetze der Bauhütten formten den Knaben Roland weitaus besser, als es Klosterschulen vermocht hätten.
    Bereits im Jahre 1273 durfte der erst fünfundzwanzigjährige Roland einem Domkapitel seine eigenen, auf großen, mit Kreide eingeschlämmten Leinentüchern gezeichneten Pläne für eine Kathedrale vorlegen. Es war das höchste, längste und breiteste Bauwerk, das jemals zur Ehre Gottes errichtet werden sollte. Und außerdem das schönste im neuen, himmelwärts weisenden gotischen Stil ...
    Benedikt Gaetani lebte zu dieser Zeit bereits in Rom. Obwohl noch nicht Kardinal, besaß er doch genügend Einfluß, um den Aufstieg seines Sohnes durch Ablaßvermittlungen, heimlich angefertigte Abschriften gewisser Dokumente von politischem Interesse aus den Archiven des Vatikans und handfeste Intrigen zu fördern.
    Einen Tag nach Misericordias Domini , dem zweiten Sonntag nach Ostern des Jahres 1275 begannen die Schachtarbeiten für die Fundamente des Ostchors der neuen, großen Kathedrale. Hunderte von Fronarbeitern schlugen in den nahen Wäldern Holz für Gerüste und Verstrebungen. Von den Bauhütten der Dome von Magdeburg und Wien und der Kathedralen zu Reims und Chartres wurden die besten Steinmetzen, Maurer und Bildhauer abgeworben. Lehrlinge und Gesellen fanden sich aus der Umgebung.
    Roland von Coburg war ein fanatischer, genialer Baumeister. Nicht sonderlich groß von Wuchs, mit langen, fast schwarzen Haaren, dunklen, geschwungenen Brauen, hellblauen Augen und leicht getönter Gesichtshaut trieb er unermüdlich seine Meister an. Oft sah man ihn noch bis zum Morgengrauen in seiner Hütte am Bauplatz unter Fackeln sitzen, den Krug mit verdünntem Honig-Met neben sich. Er konnte aufbrausend und verträumt sein, doch stets diente sein Zorn und seine Geduld nur einem Ziel: der Kathedrale.
    Er kümmerte sich um alles. Um Handwerker und die Beschaffung von Pferdegespannen, um Werkzeuge und die genaue, dreifache Kennzeichnung der Steinblöcke mit Steinmetzzeichen, Ortsangabe des Steinbruchs und Markierung des späteren Platzes am großen Bau.
    Acht Jahre nachdem Benedikt Gaetani Kardinal in Rom geworden war, konnte der Ostchor der Kathedrale mit einer feierlichen Messe eingeweiht werden. Jetzt ging es ans hohe Mittelschiff.
    Als Rolands Vater 1294 zum Papst gewählt worden war, erhielt das Domkapitel auf geheimnisvollen, oft verschlungenen Wegen immer neue Gelder und nützliche Reliquien. Nun konnte Roland, im Alter von sechsundvierzig Jahren, an etwas denken, wozu er vordem keine Zeit gehabt hatte. Er heiratete Sigrid van der Meulen, die fröhliche, stets zu allerlei Scherzen aufgelegte und für manch anderen Bräutigam zu intelligente, achtundzwanzigjährige Tochter eines Gewürzhändlers und Ratsherren der Domstadt.
    Ihr Vater richtete ihnen ein Haus ein, sorgte für Dienstboten und deutete an, daß er an Salzhandels-Privilegien an der Via Salaria nördlich von Rom nicht uninteressiert sei. Schon während der ersten
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