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Das Sakriversum. Der Roman einer Kathedrale.

Das Sakriversum. Der Roman einer Kathedrale.

Titel: Das Sakriversum. Der Roman einer Kathedrale.
Autoren: Thomas R. P. Mielke
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Meute und der Hirschhund keuchten in eine Ecke der meterdicken Mauer, die das Herrenhaus auf dem Hügel über dem kleinen Dorf wie ein Ringwall umschloß.
    Er sah, wie ein Stallknecht ins Zaumzeug vom Pferd seiner Mutter greifen wollte. Der Braune tänzelte nervös, setzte mit einem Quersprung zur Seite und kam zu dicht an die vom Wildschweinfett aufsprühenden Flammen der Feuer.
    Der Sattel rutschte zur Seite. Laut wiehernd stieg der Wallach auf die Hinterbeine. Die blonde Frau verlor das Gleichgewicht. Sie stürzte mit dem Kopf nach unten auf den Boden.
    Danach war alles anders geworden: graue Tage, die sich nur dann erhellten, wenn sein Vater ihm von seinen langen Reisen Süßigkeiten oder Spielzeug mitbrachte ...
    Gesichter von jungen Au-pair-Mädchen zogen wie eine Galerie von Engeln an ihm vorbei, dazwischen kleine, eigentlich unbedeutende Szenen, die er nicht vergessen hatte, weil sie ihn an einen Geruch, eine besondere Stimmung, an Kumuluswolken über weiten, wogenden Kornfeldern oder an den würzigen Geschmack des Rauchs von Kartoffelfeuern erinnerten.
    Silvester 1999. An diesem Abend hatte er einen dunkelblauen Samtanzug getragen. Sein Vater war noch ernster als sonst gewesen.
    »Gebe Gott, daß wir noch ein weiteres Jahrhundert überstehen«, hatte er gesagt, als die Raketen schon vor Mitternacht das neue Jahrtausend begrüßten. Drei Tage später waren sie beide nach England geflogen.
    Die Jahre in den Internaten ließen sich durch anachronistische Wertvorstellungen wie Humanität , Pflicht und Moral zusammenfassen. Er dachte ungern an diese Zeit zurück, obwohl sie sein späteres Verhalten entscheidend geprägt hatte. Er war kein besonders guter Zögling gewesen, aber auch nicht aufsässig genug, um Anführer einer Clique zu werden.
    In den Ferien hatte ihn manchmal sein Vater abgeholt und zu den Orten mitgenommen, an denen Familien wie die ihre unter sich blieben. Erst sehr viel später hatte er verstanden, wovor sein Vater ihn die ganzen Jahre schützen wollte. Noch während seines Studiums an mehreren Universitäten (zunächst Geschichte, dann Theologie und später Germanistik) war ihm aufgegangen, daß er eigentlich zu einer Kaste von Fossilien gehörte. Er sprach, dachte und empfand anders als die meisten Kommilitonen. Sein Weltbild und sein anerzogenes Selbstverständnis paßten nicht in die Realität des neuen Jahrtausends ...
    Kurz vor seinem Tod hatte ihm sein Vater eine Anstellung im Verlag von J. Samuel Bruhns vermittelt. Er war als Einzelkind unter Gleichartigen aufgewachsen, dort erst als Juniorpartner von J.S.B. hatte er einen Platz gefunden, zu dem er sich auch innerlich hingezogen fühlte.
    J.S.B. war selbst ein Relikt vergangener Zeiten. Als einziger Verleger Europas druckte er noch nach Gutenbergs Methode Ahnentafeln und genealogische Kalender. Zeit seines Lebens hatte er Bleischriften gesammelt wie andere Leute Briefmarken oder Schmetterlinge. Außerdem gab er eine der letzten Zeitungen heraus, die noch auf echtem Papier gedruckt wurden.
    Abgesehen von diesen Argumenten gab es noch einen weiteren Grund, der Goetz von Coburg veranlaßt hatte, Journalist, Redakteur und Mitherausgeber einer Zeitung für positive Nachrichten zu werden ...
    Der Grund hieß Luise Henriette. Er hatte die Tochter von J.S.B. in einer Waldorfschule kennengelernt. Das mußte im Jahr 2008 gewesen sein, unmittelbar nach seiner Rückkehr aus England. Sie war zwei Jahre jünger als er. Später, in Salem, hatten sie lange Spaziergänge unternommen und sich zum erstenmal geküßt.
    Als er nach seinem Studium zurückkehrte, war sie bereits eine verwitwete Gräfin Finck von Finckenstein ...
    Drei Jahre lang hatte sie ihn immer nur genarrt. Obwohl ihr Vater nichts gegen eine Verbindung einzuwenden gehabt hätte, war Goetz nie weiter gekommen als bis zu flüchtigen Berührungen, denen sie sich manchmal geheimnisvoll andeutend und dann wieder spöttisch lächelnd zu entziehen wußte.
    Sie hatte ihm geholfen, als er die Stromversorgung des Verlages auf Sonnenkollektoren umstellen wollte. Sie hatte ihn behindert, als er versuchte, das Redaktionskonzept der Zeitung den wahren Strömungen der Zeit anzupassen. Sie war für ihn und gegen ihn gleichzeitig gewesen: eine Heilige, die ihn wie eine Hexe quälte ...
    In der Nacht zum 8. März des Jahres 2018 war Goetz in den Keller mit den ältesten Bleischriften des Verlages gegangen, weil er besonders schöne Lettern für ein romantisches Gedicht gesucht hatte. Mit einem schweren
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